Flucht aus der UkraineDie Sehnsucht nach der Heimat bleibt
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23.8.2022 - 00:00
Ukrainische Flüchtlinge haben im Ausland Sicherheit und Stabilität gefunden. Sie passen sich an, bauen sich eine neue Existenz auf – und wünschen sich doch nichts mehr, als nach Hause zurückzukehren.
DPA, AP/toko
23.08.2022, 00:00
23.08.2022, 05:04
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Eigentlich wollte Tajsija Mokrosub mit ihrem kleinen Sohn schon längst wieder zu Hause sein. Am 8. März, knapp zwei Wochen nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, packte sie alles für sich und den Säugling zusammen, verabschiedete sich von ihrem Ehemann und brachte sich wie so viele andere in Polen in Sicherheit. Damals glaubte sie noch, der Krieg werde schnell enden. Spätestens im Mai wollte sie wieder zurück sein.
Nun, fast ein halbes Jahr später, muss sie immer noch im Gastland ausharren. Ihr Ehemann rät ihr dringend, mit dem elf Monate alten Sohn in Polen zu bleiben, denn die Front ist bedrohlich nah an ihre Heimatstadt Saporischschja herangerückt. Das Gebiet um die dortige Atomanlage wird immer wieder beschossen. Jetzt träumt Mokrosub davon, zumindest im Winter nach Hause zurückkehren zu können. Sie hofft, dass die ukrainischen Truppen den russischen Angriff bis dahin zurückgeschlagen haben.
Nach bald sechs Monaten des Krieges müssen viele Flüchtlinge die Erkenntnis verarbeiten, dass sie vorläufig nicht in die Ukraine zurückkehren können – wenn sie dort überhaupt noch ein Zuhause haben. Selbst in Gebieten unter ukrainischer Kontrolle fühlen sich viele nicht sicher, weil auch weit von der Front entfernt Raketen einschlagen. Also warten sie, sehnen sich nach der Heimat und versuchen, nicht allzu weit in die Zukunft zu denken.
Vor Beginn des neuen Schuljahres melden ukrainische Eltern ihre Kinder teils widerwillig in den Schulen im Ausland an. Eigentlich wollen sie nicht bleiben, aber sie fürchten, dass ihre Kinder sonst im Unterricht zurückfallen. Andere nehmen Arbeitsstellen an, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Frauen mit sehr kleinen Kinder, wie auch Mokrosub, können keine bezahlte Arbeit übernehmen.
«Ich habe den Eindruck, dass nicht nur für mich, sondern für alle Ukrainer die Zeit stehen geblieben ist», sagt sie. «Wir alle leben in einer Art Schwebezustand.»
Der russische Einmarsch löste die grösste Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Mehr als 6,6 Millionen Menschen flüchteten innerhalb ihres Landes, noch einmal so viele suchten im Ausland Schutz. Polen nahm mit 1,5 Millionen Menschen die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Nach Deutschland kamen mehr als 900 000. Allerdings ist unklar, wie viele inzwischen wieder nach Hause zurückgekehrt sind oder in andere Länder weiterreisten. In der polnischen Hauptstadt Warschau leben 180 000 ukrainische Flüchtlinge. Damit stellen sie ein Zehntel der Einwohnerzahl.
Die Neuankömmlinge haben sich weitgehend problemlos integriert. Sprache und Kultur in Polen erscheinen ihnen vertraut und bieten Sicherheit. Die Nähe des Landes zur Ukraine macht es möglich, für kurze Besuche zu den Ehemännern und Vätern zu reisen, die bei der Landesverteidigung im Einsatz sind und nicht ausreisen dürfen.
«Wir wollten nicht weiter weg gehen», sagt Galina Injutina, die Anfang März mit ihrem elfjährigen Sohn aus Dnipro nach Polen kam. «Mama, wenn wir weiter weg gehen, brauchen wir länger, um nach Hause zu kommen», sagte er zu seiner Mutter.
Die Ankunft so vieler Menschen hat die bereits bestehende Krise auf dem Warschauer Wohnungsmarkt verschärft: Um 30 Prozent stiegen die Mieten im vergangenen Jahr. Ähnlich ist die Lage in anderen Städten, in denen viele Flüchtlinge leben.
In den ersten Tagen des Krieges nahmen Hunderttausende polnische Familien Ukrainer, oft Fremde, bei sich auf. Dank dieser Gastfreundschaft hätten nie Flüchtlingslager errichtet werden müssen, sagt Oksana Pestrykowa, die in Warschau eine Beratungsstelle für Einwanderer leitet. Aber was als kurzer Aufenthalt geplant war, zieht sich nun hin. Polen bitten nun um Hilfe, ihren Gästen zu vermitteln, dass sie sich eine neue Unterkunft suchen müssen.
«Die Gastfreundschaft nimmt ab», sagte Pestrykowa. «Wir verstehen das und haben es erwartet.»
Nun springen Unternehmen ein. Siemens wandelte Büroräume in Warschau in Unterkünfte für fast 160 Menschen um. Die Einrichtung wird von der Stadtverwaltung betrieben, das Essen wird kostenlos zur Verfügung gestellt. Dort lebt auch Ludmila Fedotowa, eine 52-jährige Verkäuferin aus Saporischschja. Sie blickt mit Sorge auf das Geschehen in ihrer Heimat, fühlt sich zur Zeit aber sicher und versorgt.
Auch wenn es nicht ausreichend Wohnraum für alle Neuankömmlinge gibt, sind Arbeitsplätze ausreichend vorhanden. Ukrainische Einwanderer, die in den letzten Jahren nach Polen kamen, helfen den Flüchtlingen oft bei der Suche nach Arbeit und Wohnung.
Weiter im Westen, in Schwerin, hat die Informatiklehrerin Marina Galla mit ihrem 13-jährigen Sohn Stabilität gefunden. Im vergangenen Monat zogen sie nach einer langen Flucht, die sie durch Polen und Berlin führte, in eine kleine Dachgeschosswohnung. Sie hat Schrecken und Entbehrungen hinter sich gelassen, die Leichen auf den Strassen, das Trinken von geschmolzenem Schnee, weil es kein Trinkwasser gab. Doch der Gedanke an die Zurückgelassenen macht sie traurig.
In einem schwarzen Rucksack, den sie seit ihrer Flucht aus Mariupol jeden Tag bei sich trägt, bewahrt Galla in einer Seitentasche einen handgeschriebenen Zettel mit den Kontaktdaten ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Grossmutter auf. Eigentlich hatte sie ihn für den Fall geschrieben, dass sie im Krieg getötet würde, aber selbst in der Sicherheit Schwerins geht sie nicht ohne ihn aus dem Haus.
In den ersten Monaten in Deutschland hat ihr Sohn viel mit den Freunden aus der Heimat gechattet. Jetzt spricht er kaum noch mit ihnen und fragt auch nicht mehr, wann sie in die Ukraine fahren. Seine Mutter sagt: «Er versteht wahrscheinlich, dass wir nicht mehr dorthin zurückkehren können.»