Russischer Ex-Diplomat im Schweizer Asyl «Putins Kraft und sein Regime werden überschätzt»

Von Philipp Dahm

31.10.2022

«Schmutzige» Atombombe: Russland legt falsches Foto vor

«Schmutzige» Atombombe: Russland legt falsches Foto vor

Das russische Aussenministerium hat Fotos vorgelegt, die beweisen sollen, dass die Ukraine eine «schmutzige» Atombombe baut. Das kompromittierende Bild ist aber 2010 in Slowenien aufgenommen, wie dessen Regierung mitgeteilt hat. Es zeige Rauchmelder.

27.10.2022

Boris Bondarew lebt in der Schweiz im Asyl, seit der russische Diplomat wegen des Krieges in der Ukraine hingeworfen hat. Im Interview mit CNN schätzt er die Gefahr eines Atomschlags ein.

Von Philipp Dahm

«Noch nie habe ich mich so für mein Land geschämt wie am 24. Februar dieses Jahres»: Mit diesen Worten hat Boris Bondarew am 23. Mai 2022 seinen Abgang aus dem russischen Aussenministerium besiegelt.

Moskaus Mann bei der UNO in Genf gehört zu den wenigen russischen Diplomaten, die sich gegen den Krieg in der Ukraine gewendet haben. Seither lebt Bondarew weiterhin in der Schweiz: Im September wurde ihm ein vorläufiges Aufenthaltsrecht gewährt.

Weil der Anfang 40-Jährige 20 Jahre lang im Dienste des Staates stand, ist der Russe heute ein gefragter Gesprächspartner. «Er ist einer der höchsten Beamten, die wegen des Krieges abgetreten sind», stellt ihn CNN-Journalist Fareed Zakaria in seiner Sendung «Fareed Zakaria GPS» vor.

Keiner traut sich, die Wahrheit zu sagen

Der Moderator verweist auf Bondarews «faszinierendes Essay» in «Foreign Affairs», das «Die Ursachen russischen Fehlverhaltens» heisst. Demnach habe sich die Elite mehr und mehr von der Realität entfremdet. Wie konnte es so weit kommen? «Zunächst ist [die Situation] das Ergebnis der Evolution des russischen Staates», antwortet Bondarew aus der Schweiz.

Das Ganze zeichne sich «seit 20 Jahren oder mehr» ab, erklärt der Russe. Der Kreml habe sich mehr und mehr isoliert. «Und das ist sehr gefährlich, denn die Leute, die für die Regierung arbeiten, bekommen von ihren Kollegen Falschinformationen und treffen basierend auf diesen falschen Berechnungen und Lügen ihre Entscheidungen.»

Das habe im Krieg in der Ukraine gemündet, führt der Ex-Diplomat aus. Zakaria hakt nach: Bedeutet das dann auch, dass in dieser Kommunikationsunkultur schlechte Nachrichten nicht den Weg nach oben finden? «Das kommt der Wahrheit sehr nahe», bestätigt Bondarew.

«Die russische Führung ist auf der Verliererstrasse»

«Wenn man gewisse Informationen hoch an die Militärführung oder die Regierung melden will, muss man das im heutigen Russland so angenehm wie möglich verkaufen», erläutert er. «Und natürlich will man seine Bosse und die Regierung nicht verärgern. Andernfalls zerstört das deine Karriereaussichten.»

Boris Bandarow (rechts) im Gespräch mit dem CNN-Journalisten Fareed Zakaria.
Boris Bandarow (rechts) im Gespräch mit dem CNN-Journalisten Fareed Zakaria.
Screenshot: CNN

Was steckt hinter der Mär von der «schmutzigen Bombe», die Kiew laut Wladimir Putin zünden will? «Ich glaube, die russische Führung ist auf der Verliererstrasse. Sie versuchen, sich auf diese neue Realität einzustellen und sich anzupassen. Es wirkt ziemlich chaotisch, denn dahinter steckt keine Strategie.»

Der Kreml suche bloss nach Möglichkeiten, einen Weg aus der verfahrenen, festgefahrenen und «sehr gefährlichen» Lage zu finden. Könnten auch taktische Atomwaffen ein Mittel der Wahl sein, wie Putin durchblicken lässt? «Ich denke nicht, dass diese Drohungen derzeit besonders real sind.»

Ukrainer «können diesen Krieg gewinnen»

Für Bondarew ist Abschreckung jedoch essenziell: «[Die Drohungen] werden nicht wahr werden, solange Putin von der internationalen Gemeinschaft das Signal bekommt, dass jedweder Einsatz von Atomwaffen schwerste Konsequenzen für Russland und für ihn persönlich hat.»

Bleibt die Frage, wie der Konflikt enden kann: Ist ein Verhandlungsfrieden möglich? «Die Parteien haben ganz verschiedene und mitunter widersprüchliche Prioritäten und Ziele bei diesen Verhandlungen», entgegnet der Ex-Diplomat. «Im Moment sehe ich keine Aussicht für irgendeine echte Verhandlung.»

Bondarews Fazit: «Ich glaube nicht, dass Putin bereit für einen langwierigen Krieg ist: Seine Kraft und sein Regime werden gerade ein bisschen überschätzt. Wir sehen in Russland zum Beispiel in Zusammenhang mit der Mobilisierung jede Menge Verwirrung. Es gibt ein gewisses Mass an Unruhe und Ablehnung in der Bevölkerung.»

Die Ukraine sei in der Lage, die russische Armee zu schlagen. Das sei aber nur möglich, wenn der Westen Kiew weiter unterstütze. «Ich denke, sie können diesen Krieg gewinnen.»