Dnipro betrauert Tote«Sie sind Helden der Ukraine, sie litten für das ganze Land»
dpa/twei
21.1.2023 - 17:53
Die Menschen im ostukrainischen Dnipro fühlten sich stets relativ sicher – bis eine russische Rakete in ein Wohnhaus einschlug, Dutzende Zivilisten tötete und verletzte. Wie wird man mit einem solchen Schrecken fertig?
DPA, dpa/twei
21.01.2023, 17:53
dpa/twei
Anna Kotowa war mit ihrem Handy näher ans Küchenfenster gerückt, um einen Glückwunsch-Anruf ihrer Schwester zu ihrem 19. Geburtstag entgegenzunehmen. Da schlug die russische Rakete im Nachbarhaus ein – und alles wurde anders. Kotowas Freund Denys Krywulja, der sich zum Zeitpunkt des Angriffes in einem anderen Zimmer aufgehalten hatte, fand sie blutüberströmt am Boden vor.
Die Wucht der Explosion nach dem Einschlag im Nachbargebäude hatte die Fenster und Türen ihrer Wohnung zersprengt, und ein Glassplitter steckte in einem ihrer Augen. Ein anderer verfehlte nur knapp eine grössere Arterie in ihrem Hals.
«Gott sei Dank war sie am Leben», sagt der 24-jährige Krywulja über die ersten Augenblicke nach dem Angriff auf das Wohnhaus in Dnipro am Samstag vergangener Woche – der bislang tödlichsten einzelnen Attacke gegen Zivilisten seit Beginn der russischen Invasion vor fast elf Monaten. Nach offiziellen Angaben kamen mindestens 45 Einwohner ums Leben, darunter sechs Kinder. Kotowa zählt zu den mindestens 79 Verletzten. Ärzte mussten ihr Auge entfernen, und sie ist weiter im Krankenhaus.
Brandgeruch hängt noch immer in der Luft
Dabei hatte Dnipro mit fast einer Million Einwohnern zuvor als relativ sicher gegolten, jedenfalls im Vergleich zu anderen Gebieten im Osten des Landes. So waren seit dem Kriegsbeginn viele Ukrainer in diese Stadt geflohen, die ungefähr 485 Kilometer südöstlich von Kiew liegt. Verletzte ukrainische Soldaten werden routinemässig zur Behandlung in Dnipros Krankenhäuser gebracht.
In dem neunstöckigen Wohnhaus, das direkt getroffen wurde und das zwischen zwei identischen Gebäuden stand, lebten etwa 1700 Menschen. Rettungsteams arbeiteten drei Tage lang rund um die Uhr, um in Trümmern nach Toten und Vermissten zu suchen.
Es hängt immer noch ein intensiver Brandgeruch in der Luft, Tage, nachdem die Suche beendet worden ist. Jetzt geben Freiwillige an verschiedenen Posten in der Nähe Essen, Kleidung und Plastikplanen aus, um die Kälte fernzuhalten, bis die kaputten Fenster repariert werden können.
«Ich wache mit einem Gefühl der Trauer auf»
Ungefähr 400 Menschen haben ihr Zuhause verloren, 72 Wohnungen wurden völlig zerstört und weitere 236 schwer beschädigt, wie der Stadtrat von Dnipro berichtet. Die Stadt hatte es zuvor mit Stromausfällen infolge von Angriffen auf die Infrastruktur zu tun, aber das hier, der Tod von Zivilisten und die schiere Verwüstung, hat die Einwohner demoralisiert: Sie haben das Gefühl, dass es keinen Ort mehr gibt, an dem man sich vor den Schrecken des Krieges verbergen kann.
«Ich wache mit einem Gefühl der Trauer auf», sagt Waleria Murtschytsch, die gekommen ist, um an der Stätte Blumen niederzulegen. Sie hat Beruhigungsmittel bei sich, in ihrer Tasche, sie nimmt sie seit jenem Samstag überall hin mit, sie helfen ihr, das Geschehene besser bewältigen zu können.
Angriffe berauben Zivilisten ihrer Existenz
Am vergangenen Mittwoch versammelten sich Trauernde vor einer kleinen Kirche, nicht weit von dem zerstörten Wohnhaus entfernt. Angehörige, Nachbarn und Freunde kamen, um sich von einem Ehepaar zu verabschieden, Maxym und Natalija Schwez, die unter den Trümmern starben. «Sie sind Helden der Ukraine, denn, in ihrem friedlichen Leben, litten sie für das ganze Land», sagte Witalij Lopuschanskyj, ein orthodoxer Priester, während der Trauerfeier.
Die Tochter des Paares, Anastasija Schwez, wurde von Dutzenden Menschen umarmt, ein Versuch, ihr wenigstens etwas Trost zu spenden. Ein Foto vom Samstag vergangener Woche, das viral ging, zeigt die 23-Jährige eingeschlossen in einem oberen Stockwerk, fassungslos, ihre Hände über dem Mund. Ihre Eltern waren in der Küche der Familienwohnung, als die Rakete einschlug. Von dem, was ihr Zuhause war, ist jetzt nichts mehr übrig.
«Mir fehlen die Worte. Ich habe keine Gefühle. Ich fühle nichts ausser einer grossen inneren Leere», schrieb Schwez auf Instagram, kurz, nachdem sie Rettungskräfte aus den rauchenden Ruinen gezogen hatten. Wie sie weiter schilderte, trauerte sie noch um einen anderen Menschen, der ihr sehr nahe stand, als sie ihre Eltern verlor: einen Soldaten, der vor Monaten in den Kämpfen ums Leben gekommen war.
Vermeintliche Sicherheit Dnipros erweist sich als Trugschluss
Kotowa hatte eine Geburtstagsfeier im kleinen Kreis geplant, mit engen Freunden und Krywulja. Die beiden jungen Leute waren am ersten Tag der russischen Invasion aus der Stadt Sjewjerodonezk in der Provinz Luhansk geflüchtet, in die – wie sie glaubten – relative Sicherheit von Dnipro. Die Russen nahmen Sjewjerodonezk im Juni ein.
Krywulja ist jetzt im Krankenhaus an Kotowas Seite, während sie sich von ihren schweren Verletzungen erholt. Glas hatte nicht nur ihr Auge getroffen, sondern sich in der ganzen Länge ihres Körpers ins Fleisch gebohrt. Die junge Frau will später zu weiterer Behandlung und plastischer Operation nach Polen reisen.
Inmitten ihrer Schmerzen hatte sie ihren Freund gefragt, ob er sie verlassen werde. «Aber warum sollte ich sie verlassen? Weil ihr Körper verstümmelt ist?», fragt Krywulja. «Deshalb liebe ich sie doch nicht weniger.»