Putin zittert um den DonbassDarum hat es Moskau plötzlich pressant mit den «Referenden»
Von Philipp Dahm
20.9.2022
Selenskyj: Russische Armee gerät «in Panik»
Angesichts der Rückeroberung der Gebiete in der ostukrainischen Region Charkiw sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft, dass die russische Armee «in Panik» gerate und ihr nur noch zwei Möglichkeiten b
20.09.2022
Die selbsternannten Volksrepubliken in Luhansk und Donezk drängen Moskau zu einem schnellen Anschluss. Das ist ganz auf Linie des Kreml: So wären weitere ukrainische Vorstösse ein Angriff auf russisches Gebiet.
Von Philipp Dahm
20.09.2022, 13:57
20.09.2022, 14:44
Philipp Dahm
Eigentlich hat sich an den Fronten in der Ukraine zuletzt wenig getan. Am Oskil im Oblast Charkiw überqueren Kiews Truppen höchstens lokal den Fluss: Nach den jüngsten grossen Geländegewinnen scheinen sich die Streitkräfte hier vorerst sammeln und neu organisieren zu müssen.
Im Abnutzungskrieg um Chersonn im Süden im Oblast Saporischschja und an der Donezk-Front bewegt sich ebenfalls wenig, doch ein – auf den ersten Blick eher unscheinbarer Erfolg der Armee hat offenbar beachtliche Auswirkungen: Es geht um die Eroberung von Bilohoriwka. Nachdem auf Telegram ukrainische Soldaten in dem Ort zu sehen sind, kontrolliert Moskau den Oblast Luhansk nicht mehr vollständig.
Der Vorgang hat nicht nur einen psychologischen Effekt, erklärt der ukrainische Gouverbeur von Luhansk. «[Bilohoriwka] ist ein Vorort von Lyssytschansk», sagt Serhij Hajdaj laut «Guardian«. «Bald werden wir diese Mistkerle dort mit dem Besen rauskehren. Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter werden wir das gesamte Land von den Eindringlingen befreien.»
Nach der überrschenden Offensive in Charkiw Richtung Osten und angesichts des Vorrückens auf Lyssytschansk und Sjewjerodonezk ist es kaum verwunderlich, dass sowohl Moskau wie auch seine Marionetten in Donezk und Luhansk unruhig werden. In Absprachen setzen sie deshalb erneut ein pseudo-demokratisches Prozedere in Gang, das ein Referendum und dann einen zeitnahen Anschluss an die Russische Föderation vorsieht.
Zu diesem Zweck wurde in Luhansk eine «Bürgerkammer» eingerichtet, deren Vorsitzender den Kreml am 19. September bittet, rasch eine Abstimmung über einen Anschluss abzuhalten. Die Vorbereitungen liefen, doch ein Datum stehe noch nicht fest, erklärt Alexej Karjakin im russischen TV. Wenig später folgt die Donezker «Bürgerkammer» mit der gleichen Bitte, wie die russische Nachrichtenagentur Tass meldet.
Update: Die selbsternannte Volksrepublik Donezk in der Ostukraine hat nach der Region Luhansk nun auch ein umstrittenes Referendum für den Beitritt zu Russland angesetzt. Die Abstimmung werde vom 23. bis 27. September abgehalten, teilte die Volksversammlung am Dienstag mit. Die zeitgleichen Referenden gelten als Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes.
Der vermeintliche Vorteil: Annektiert Moskau den Donbass, wird die militärische Führung weitere Angriffe wie Attacken auf russisches Kerngebiet behandeln. Das würde dem Kreml einen Vorwand geben, eine Teil-Mobilmachung zu rechtfertigen, glaubt auch der ukrainische Luhansk-Gouverneur Hajdaj.
Nicht zuletzt würden weitere Angriffe mit westlichen Waffen auf einen annektierten Donbass den Ton zwischen Nato und Russland weiter verschärfen. Und die Unterstützung reisst nicht ab: Deutschland wird «trotz der angespannten eigenen Materiallage» vier weitere Panzerhaubitzen 2000 liefern und Slowenien 28 Panzer vom Typ M-55S, wobei Berlin für entsprechenden Ersatz sorgen wird.
US-Panzer für die Ukraine?
«Foreign Policy»-Reporter Jack Detsch will derweil aus dem Pentagon erfahren haben, dass die USA nun ebenfalls Panzer-Lieferungen in Betracht ziehen. Moskau muss mit Blick auf Waffentechnik dagegen mal wieder empfindliche Verluste verbuchen. Zum einen hat der Feind ein modernes Kommando-Vehikel erobert, an dessen Technik westliche Geheimdienste ihre helle Freude haben dürften.
#Ukraine: Another valuable asset was lost by the Russian army - the Ukrainian forces captured a 1V1003 command and observation vehicle from a very modern 1V198 automated artillery fire control system. This system was designed especially to work with Tornado-G MRLs. pic.twitter.com/vDrgoWpmFh
Zum anderen präsentiert die ukrainische Armee einen erbeuteten T-90M. Bisher kann Kiew nur einen Erfolg gegen den modernsten russischen Panzer vermelden, als Anfang Mai ein Exemplar zerstört werden konnte. Nun können ukrainische und westliche Experten den T-90M genau unter die Lupe nehmen: «Einen so fortschrittlichen Panzer zu bekommen, ist nur der jüngste in einer langen Reihe von unverhofften Gewinnen für die Ukraine und ihre Nato-Verbündeten», staunt «The Drive».
Announcement The newest russian tank T-90M was found in Kharkiv region in perfect condition. We ask its owner(s) to contact the #UAarmy . Please identify yourself by a sign: a white flag. pic.twitter.com/Lo1KeOtepS
Die Situation macht offenbar viele Russ*innen unruhig – und deshalb sollen Eilreferenden im Donbass Tatsachen schaffen. Das sieht auch Wladimir Putins Kettenhund Dmitri Medwedew so. Der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates schreibt heute auf Telegram, nach einer Eingliederung könnten «alle Mittel des Selbstschutzes» eingesetzt werden.
Und weiter: «Nach Durchführung [der Abstimmungen] und der Aufnahme der neuen Territorien in den Bestand Russlands nimmt die geopolitische Transformation in der Welt unumkehrbaren Charakter an.» So «unumkehrbar» wie bei der Krim? Das wird sich noch zeigen müssen.
Update 14.44 Uhr: Zeitgleich mit den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine will auch das umkämpfte Gebiet Cherson im Süden über einen Beitritt zu Russland abstimmen lassen. Das Scheinreferendum soll vom 23. bis 27. September abgehalten werden, wie die Besatzungsmacht dort mitteilte.