Staatskrise Tunesien am Scheideweg zwischen Demokratie und Diktatur

Von Sven Hauberg

2.8.2021

Nach der Entmachtung des Premierministers feierten Anhänger von Präsident Kais Saied in Tunis.
Nach der Entmachtung des Premierministers feierten Anhänger von Präsident Kais Saied in Tunis.
Bild: Keystone

War es ein Putsch oder ein Befreiungsschlag gegen Islamismus und Korruption? In Tunesien spitzt sich die politische Lage zu – während die Corona-Zahlen durch die Decke gehen.

Von Sven Hauberg

2.8.2021

Auch gut eine Woche, nachdem Staatspräsident Kais Saied die Macht in Tunesien übernommen hat, ist die Situation in dem nordafrikanischen Land unsicher. Wohin steuert der Staat mit seinen knapp zwölf Millionen Einwohnern – in Richtung Diktatur oder hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit?

Saied hatte am 25. Juli, dem Nationalfeiertag, den parteilosen Ministerpräsidenten Hichem Mechichi des Amtes enthoben und die Arbeit des Parlaments eingefroren. Die Verfassung gebe ihm das Recht dazu, betonte Saied anschliessend.

Tatsächlich erlaubt es ihm die Verfassung, in Notsituationen zu aussergewöhnlichen Massnahmen zu greifen. Und es gibt in der Tat vieles, das im Land im Argen liegt. Da ist einerseits die Korruption, die vor der Revolution von 2011 vor allem auf eine kleine Herrscherclique begrenzt war, nun aber das gesamte politische System durchdrungen hat. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden, viele junge Tunesierinnen und Tunesier suchen ihr Glück im Ausland.

Und dann ist da noch die Corona-Krise, die Tunesien fest im Griff hat. Die Todesraten sind verglichen mit der Bevölkerungszahl extrem hoch, die Impfrate hingegen ist niedrig: Laut Zahlender Johns-Hopkins-Universität sind erst gut acht Prozent der Bürgerinnen und Bürger vollständig immunisiert worden.

Der tunesische Präsident Kais Saied hat die Regierung entmachtet.
Der tunesische Präsident Kais Saied hat die Regierung entmachtet.
Bild: Keytone

«Kampf gegen die Korruption und gegen Terrorismus»

Auf den Strassen von Tunis wird Saied für sein Vorgehen gegen die Regierung von vielen gefeiert. «Hier geht nicht um einen ideologischen Kampf, sondern um ein Kampf gegen die Korruption und gegen Terrorismus», sagt etwa der 33-jährige Fares Chargui zu «blue News». «Wir haben in den letzten zehn Jahren keine wirkliche Freiheit erhalten», so der Psychiater, der im Winter 2010/2011 selbst an den Protesten gegen das alte Regime teilgenommen hatte und sich derzeit in Tunis aufhält.

Doch es gibt auch Kritik an dem Vorgehen Saieds. «Der Präsident gewährt sich die Rechte eines Diktators, indem er in seinen Händen die Macht der Exekutive, der Legislative – und mit der Leitung der Staatsanwaltschaft sogar der Judikative konzentriert», sagte Yadh Ben Achour, der Präsident der ersten verfassungsgebenden Kommission Tunesiens nach der Revolution war, dem «Spiegel». Andere vergleichen Saied mit dem früheren Diktator Ben Ali, der 2011 gestürzt wurde und vor zwei Jahren in seinem saudischen Exil verstarb.



Saied, ein 63-jähriger Jura-Professor, wurde im Oktober 2019 in einer Stichwahl zum tunesischen Präsidenten gewählt. Mehr als 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler schenkten dem unabhängigen Kandidaten ihr Vertrauen – einem Mann, der als ultrakonservativ gilt, der die Todesstrafe befürwortet und Homosexualität ablehnt.

Gleichzeitig gilt Saied, der sich betont volksnah gibt, obwohl er Hocharabisch spricht statt des tunesischen Dialekts, als einer, der der im Land grassierenden Korruption entschlossen den Kampf angesagt hat. Als Regierungschef Mechichi Anfang des Jahres mehrere neue Regierungsmitglieder ernannte, verweigerte Saied ihre Vereidigung. Seine Begründung: Mehrere der designierten Minister stünden unter Korruptionsverdacht.

Seit Monaten schwelender Konflikt

Der Konflikt zwischen Regierung und Präsident spitzte sich zu, als Saied sich weigerte, einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines Verfassungsgerichts zu ratifizieren. Ein solches oberstes Gericht hätte eigentlich bereits im Jahr 2015 gegründet werden sollen; Saied verweigerte seine Unterzeichnung nun mit Hinweis auf diese Verzögerung, die er für verfassungswidrig hält. Kritiker werfen ihm hingegen vor, durch seine Haltung eine Staatskrise heraufbeschworen zu haben.

Am vergangenen Wochenende wurden unterdessen mehrere Kritiker Saieds festgenommen: ein Abgeordneter, der 2018 von einem Militärgericht zu zwei Monaten Haft verurteilt worden war und der nun seine Immunität verloren hat; ausserdem wurde ein Richter, dem Verbindungen zu Islamisten vorgeworfen werden, unter Hausarrest gestellt. Ebenfalls festgenommen wurde ein Abgeordneter der islamistischen Partei Al-Karam.

Regiert wird Tunesien seit zehn Jahren von einer anderen islamischen Partei: von der gemässigt islamistischen Ennahda, die seit der Revolution an jeder Regierung beteiligt war. Deren Chef Rached Ghannouchi, der auch Präsident des Parlaments ist, schrieb nun in der «New York Times», Saied «zerreisse das System der Gewaltenteilung» und unternehme Schritte aus dem «Spielbuch, um eine Diktatur zu errichten». Und im Interview mit dem «Spiegel» sagte Ghannouchi: «Die Tunesier werden die Herrschaft eines Diktators nicht akzeptieren.»

Kritik aus den USA, Unterstützung von Ägypten

Auch wenn er einst gegen Ben Ali demonstriert habe, sei früher vieles besser gewesen im Land, glaubt der Psychiater Fares Chargui. «Durch den Druck im Land haben die Institutionen effektiver gearbeitet, es gab mehr Ordnung», sagt er. «Korruption betraf nur die Familie des Diktators, heute ist sie deutlich verbreiteter.» Vor allem aber hätten die Islamisten der Ennahda-Partei heute zu viel zu sagen. «Früher durften die Islamisten hier nicht einmal atmen, nun dürfen sie im Namen der Freiheit wieder an der Politik teilnehmen und sogar regieren – obwohl sie an den zivilen Charakter des Landes nicht glauben.»

Welche Schritte Saied als Nächstes plant, ist derzeit offen. In einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP wollte sich der Präsident nicht zu seinem Vorgehen äussern, wie am Sonntag gemeldet wurde. Während Saied Mitte vergangener Woche einen neuen Innenminister ernannte, liess er noch offen, wer dem geschassten Hichem Mechichi als Ministerpräsident nachfolgen soll.



Die USA forderten unterdessen einen Plan, um Tunesien «schnell zurück auf den Pfad der Demokratie zu bringen», wie das Weisse Haus nach einem Telefonat von Sicherheitsberater Jake Sullivan mit Saied mitteilte. Unterstützung für seinen Kurs erhielt Saied hingegen aus dem Nachbarland Ägypten, das die islamistische Ennahda-Partei, ähnlich wie die Muslimbrüder, als Gefahr für die Stabilität der Region sieht.

Für Fares Chargui ist auf jeden Fall eines klar: Der Traum von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für den sie vor zehn Jahren auf die Strasse gegangen sind, ist noch weit entfernt. Viele Menschen in Tunesien hätten Angst, sagt er, dass in dem Land bald «libanesische Verhältnisse» herrschen könnten, wo die Islamisten der Hisbollah seit Jahren die Politik bestimmen. «Eine Demokratie, an der Politiker beteiligt sind, die selbst nicht an die Demokratie glauben, funktioniert nicht.»