Schweizer hilft Flüchtenden Er fährt quer durch Europa, um eine Familie zu retten

Von Lia Pescatore

1.3.2022

«Ich will etwas tun»: Bruno Schwaller aus Recherswil SO mit seiner Frau Monica.
«Ich will etwas tun»: Bruno Schwaller aus Recherswil SO mit seiner Frau Monica.
zVg

Solidarität mit der Ukraine bezeugen Bundesrätin Karin Keller-Sutter, aber auch Landwirt und Musiker Bruno Schwaller. Unterschiedlicher könnten ihre Wege nicht sein.

Von Lia Pescatore

1.3.2022

Eigentlich hat Bruno Schwaller genug zu tun, er hat vier Kinder, betreibt einen Bauernhof in Recherswil im Kanton Solothurn. Diese Woche werden ihm eine neue Ladung Bibeli geliefert, die Erdbeeren müssen gedüngt werden, Poulet produziert.

Mit den Geschehnissen in der Ukraine wollte er zuerst nichts zu tun haben, sagt er im Gespräch mit blue News. Er könne sich schlecht abgrenzen, «ich habe die Tendenz, solche Neuigkeiten aufzusaugen wie ein Schwamm». Als er sich jedoch dem omnipräsenten Thema nicht mehr verwehren konnte, war ihm schnell klar: «Ich will etwas tun.»

«Es ist ein Schwappen zwischen zwei Welten»

Bruno Schwaller sitzt im Auto kurz vor Olten, als blue News am Montagnachmittag mit ihm spricht, seine Stimme verzerrt durch die Sprechanlage des Autos. Einen Post auf den sozialen Medien rauszulassen, Geld zu spenden oder zu demonstrieren, reichte ihm nicht aus, um seine Solidarität zu bekunden. Darum befindet er sich auf dem Weg Richtung ukrainisch-ungarische Grenze, wo er eine geflüchtete Familie abholt.

Bauer Bruno Schwaller, von Musiker-Freunden auch Prünell genannt, befindet sich auf dem Weg Richtung ukrainisch-ungarische Grenze.

Facebook

Den Kontakt bekam er durch eine ukrainisch-holländische Firma, von der er ein Traktor-Navigationsgerät bezieht. Eigentlich habe die Firma ihre Kunden nur dazu aufgefordert, ein mehrjähriges Abo abzuschliessen, um der Firma zu ermöglichen, ihre Leute in der Ukraine ausser Landes zu bringen. «Es ist ein Schwappen zwischen zwei Welten», sagt Schwaller. Zwischen Mitleid und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, er habe sich für die zweite entschieden. «Das gibt mir selbst etwas zurück.»

Die Firma konnte ihnen eine befreundete Familie vermitteln, die er nun an der ukrainisch-ungarischen Grenze abholen wird – er kennt sie von einem Foto, kennt ihre Namen und ihr Alter. Über Telegram hätten sie einige Nachrichten ausgetauscht, sagt er. Der Vater sei ihm sympathisch gewesen, das habe für seine Entscheidung ausgereicht. Das war vor zwei Tagen.

Eigentlich hätte die Familie aus Kiew mit dem Auto über die Grenze gelangen sollen. Doch dieses hätten sie zurücklassen müssen, weil es keine Papiere für die EU habe oder so, «das habe ich so genau nicht verstanden», sagt er. Die Situation sei chaotisch, «der Plan ändert sich stündlich», so Schwaller.

Am Morgen habe er eine letzte Nachricht von der Familie erhalten: Die Familie wolle heute über die Grenze, würde aber schon am Montag in der Nacht aufbrechen wegen der langen Warteschlangen, übersetzt Google Translate, und: «Wir warten sehr auf dich, Bruno, Sie sind unsere Hoffnung.» «Das hat mich in meinem Vorhaben bestärkt», sagt Schwaller.

Campax startet Aufruf für Unterkünfte

Schwaller ist nicht der Einzige, der Geflüchtete in der Schweiz willkommen heissen will. Die Organisation Campax richtete heute ein Schreiben an die Schweizer Bevölkerung. «Es ist Zeit, dass auch wir in der Schweiz unseren Teil leisten und helfen», schreibt sie in einer Mitteilung von heute. Jeder könne einen Beitrag leisten, zum Beispiel, in dem Flüchtlinge aufgenommen würden. Geschäftsführer Andreas Freimüller schreibt wenige Stunden nach dem Aufruf, es hätten sich bereits Unterkünfte für 3000 Menschen ergeben. 

Laut Staatssekretariat für Migration ist dies für Privatpersonen ohne rechtliche Einschränkungen möglich, «sofern die Unterbringung kostenlos ist». Werden Ausländer*innen gegen Bezahlung beherbergt, müsste deren Ankunft bei der örtlichen Polizei gemeldet werden. 

Aufnahme von 10'000 Schutzsuchenden gefordert

Doch die Forderungen von Campax richten sich auch an den Staat. Zusammen mit anderen Organisation hat sie sich am Freitag mit einem Brief an Bundesrätin Keller-Sutter gewendet, der die Aufnahme von 10'000 Schutzsuchenden aus der Ukraine fordert. Die Schweiz müsse zudem legale Zugangswege schaffen, über die schutzbedürftige Menschen sicher und unversehrt in die Schweiz gelangen könnten.

Karin Keller-Sutter betonte am Montag an einer Medienkonferenz: «Wir lassen die Menschen in der Ukraine nicht im Stich.» Viele der Geflüchteten seien bei Familien und Freunden in den Nachbarländern der Ukraine untergekommen, «sie suchen nur vorübergehenden Schutz». Asylgesuche würden kaum gestellt. Dies bestätigt auch das Staatssekretariat für Migration auf Anfrage. Man rechne mit bis zu 2000 Menschen, die in der Schweiz Zuflucht suchen, schätzt der Bund. Laut Zahlen der UN vom Mittag sind bereits über eine halbe Million Menschen aus der Ukraine in Nachbarländer geflüchtet.

Karin Keller-Sutter betonte vor den Medien, dass für Ukrainer*innen der Aufenthalt im Schengenraum während 90 Tagen auch ohne Visum möglich sei, einzige Voraussetzung sei üblicherweise das Vorweisen eines biometrischen Passes. Hier wolle sich das EJPD «grosszügig und unkompliziert» zeigen, sagte sie. Auch Personen, die keinen biometrischen oder auch gar keinen Pass vorweisen können, soll die Einreise ermöglicht werden. 

Doch was geschieht nach den neunzig Tagen? «Man darf nicht davon ausgehen, dass sich die Situation in dieser Zeit bereits normalisiert», sagte Karin Keller-Sutter. Darum liefen momentan Gespräche zwischen den Schengen-Staaten, es sei auch Thema am Treffen der Justiz- und Innenminister gewesen, das am Sonntag stattfand.

Die EU-Staaten stellten zum Schluss dieses Treffens die Aktivierung einer EU-Richtlinie in Aussicht, die den vorläufigen Schutzstatus über die 90 Tage bis zu 3 Jahren lang garantiert. In der Schweiz käme dies dem S-Status gleich, sagte Keller-Sutter am Montag. 

«Ich hoffe, dass daraus eine Freundschaft entsteht»

Auf wenig Interesse stossen diese Verhandlungen bei Bauer Bruno Schwaller. Sich mit den Behörden auseinanderzusetzen, brauche nur Energie, «in dieser Zeit kann ich fünf Stunden Autofahren». 16 Stunden Fahrt hat er noch vor sich.

Im Gepäck hat er neben Pass und Geld eine gelbe Jacke, «damit ich leuchte», ein Übersetzungsgerät – denn die Familie spricht nur Ukrainisch – und Schlafsack und Mätteli, falls er bei Freunden in Wien oder Budapest über Nacht unterkommt. «Und ein Laptop», fällt ihm dann noch ein. Damit die Kinder auf der Heimfahrt einen Film schauen könnten.

Er ist in Gedanken bereits an der Grenze, und auch zu Hause, wo seine Frau und seine Kinder alles für die Ankunft vorbereiten und auch mit gewissen Sorgen auf die Gäste warten.

Im Hinterkopf habe er immer eine grosse Hoffnung: dass sich eine Freundschaft aus dem Ganzen entwickelt. Die ukrainische Familie würde nun an ihrem Leben teilhaben. «Ich hoffe, dass ich eines Tages mit der Familie in die Ferien in die Ukraine gehen kann, um auch etwas über ihr Leben zu erfahren».