Nato-Norderweiterung erst im Sommer? Erdogans Türkei lässt sich bitten

Von Philipp Dahm

5.11.2022

Erklärt: Putins Problem mit der Nato

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14.06.2022

Ungewohnte Szene in Istanbul: Der Nato-Generalsekretär zeigt mit Blick auf die Norderweiterung offen Ungeduld. Schweden bemüht sich, Ankaras Forderungen gerecht zu werden, doch die Türkei lässt das Bündnis zappeln.

Von Philipp Dahm

5.11.2022

Am 5. Juli unterzeichnen die Nato-Staaten die Protokolle, in denen die Beitrittsgesuche von Schweden und Finnland verankert sind. Noch am selben Tag ratifizieren Kanada, Island und Norwegen die Dokumente. Noch im Juli haben 20 von 30 Mitgliedern die Anträge abgenickt.

Am 27. September stimmt mit der Slowakei der 28. Nato-Partner zu. Nun fehlt noch Ungarn, das spätestens Mitte Dezember seinen Segen geben will. Und die Türkei, die sich allerdings bitten lässt: Wann Ankara grünes Licht für die Norderweiterung geben wird, steht in den Sternen.

Dabei findet der Nato-Generalsekretär deutliche Worte, als er am 3. November in Istanbul den türkischen Aussenminister Mevlüt Cavusoglu trifft. «Finnland und Schweden haben mit Blick auf ihr Übereinkommen mit der Türkei geliefert», sagt Jens Stoltenberg in der anschliessenden Pressekonferenz.

Stoltenberg wird ungeduldig

Die Kandidaten seien «starke Partner», betont der Norweger: «Sie haben sich klar langfristig an ein Engagement mit der Türkei gebunden, um ihren Sicherheitsbedenken gerecht zu werden. Es ist also an der Zeit, Finnland und Schweden als vollwertige Mitglieder willkommen zu heissen.» «So etwas sehen wir nicht oft», ordnet anschliessend Teri Schulz,  Korrespondentin der «Deutschen Welle», den Auftritt ein.

Stoltenberg pocht auf raschen Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens

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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat bei einem Besuch in der Türkei auf einen raschen Vollzug des Beitritts von Schweden und Finnland zum Verteidigungsbündnis gepocht. Mit Blick auf die vom Nato-Mitglied Türkei geäusserten Bedenken sprach er

04.11.2022

Denn: «Wir haben Anzeichen für Ungeduld bei Stoltenberg erkannt.» Bisher habe das Bündnis Ankara Zeit geben wollen, sich mit Oslo und Stockholm auseinanderzusetzen und zu einigen. Die Kandidaten hätten alles getan, um die Türkei zu überzeugen. Aber: «Es war heute das erste Mal, dass sich Stoltenberg hingestellt und gesagt hat: ‹Okay, Türkei, ihr hattet genug Zeit›.»

Für das Bündnis ist der geplante Zuwachs ein Glücksfall: Beide Kandidaten bringen nicht nur moderne Streitkräfte ein, sondern würden der Nato auch strategisch enorme Vorteile bringen – siehe Video ganz oben. «Ihr Beitritt wird unsere Allianz sicherer und unser Leben sicherer machen«, sagt dann auch Stoltenberg, dessen Heimat Norwegen ebenfalls in Moskaus Visier ist.

«Finnland ist kein Land, in dem Terroristen frei herumlaufen»

Der Generalsekretär betont unverhohlen: «In diesen schwierigen Zeiten ist es noch wichtiger, den Beitritt abzuschliessen.» Doch das tönt nach Wunschdenken: Wie «Bloomberg» erfahren haben will, denkt die Türkei gar nicht daran, vorwärts zu machen. Im Gegenteil: Die Chancen, dass vor Juni 2023 etwa passieren wird, seien gering, heisst es mit Verweis auf offizielle anonyme Quellen.

Aussenpolitisches Gewicht gegen innenpolitische Probleme: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 30. Juni beim Nato-Gipfel in Madrid.
Aussenpolitisches Gewicht gegen innenpolitische Probleme: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 30. Juni beim Nato-Gipfel in Madrid.
AP

Die Situation wirkt festgefahren: Einerseits lässt Ankara Anfang Oktober durchblicken, Finnland könne schon mal aufgenommen werden. Andererseits wird mitgeteilt, dass das Parlament in Ankara in diesem Jahr keinen Termin mehr finden könne, um beide Staaten aufzunehmen. «Finnland ist kein Land, in dem Terroristen frei herumlaufen», tönt Präsident Recep Tayyip Erdogan in dem Zusammenhang.

Doch Finnland will – Stichwort: Solidarität in Nordeuropa – nicht ohne Schweden beitreten. Und die Aussage bringt des Pudels Kern auf den Punkt: Erdogan macht Druck auf Stockholm, damit die Schweden härter gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK vorgeht. «Ich war im Sommer auf einer pro-kurdischen Demonstration», sagt dazu Korrespondentin Schulz. «Die Flaggen der PKK waren in der Mehrheit.»

Türkei: Präsidentenwahl im Juni 2023

Bisher hat Stockholm diese Gruppe toleriert und sich auf die Meinungsfreiheit berufen. Nun ist jedoch eine neue Regierung am Ruder: Der frisch gebackene Premier Ulf Kristersson wird am 8. November in der Türkei vorstellig werden. Seine rechts-konservative Mannschaft steht für einen härteren Kurs gegenüber den Kurden, doch ob das wirklich nützen wird, scheint fraglich.

Der Grund dafür ist der Wahlkampf in der Türkei: Erdogan steht am 18. Juni 2023 zur Wiederwahl. Der 68-Jährige könnte Schweden als Mittel benutzen, um Innenpolitik zu betreiben. Deshalb besteht Ankara darauf, dass Stockholm weitere Personen aus dem PKK- und Fethullah-Gülen-Dunstkreis ausliefern muss.

Türkei: Inflation steigt auf 85,5 Prozent

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Die galoppierende Inflation in der Türkei hat weiter an Tempo zugelegt: Im Oktober lagen die Verbraucherpreise 85,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor, wie das nationale Statistikamt mitteilte. Neben der schwachen Landeswährung Lira sorgt etwa auch der Ukraine-Krieg für die höheren Preise.

04.11.2022

Wie «Al Monitor» berichtet, ist Jens Stoltenberg aber auch bei Kristersson vorstellig geworden. «Er hat den Schweden höllisch Druck gemacht, damit sie von ihrem angeblich rigiden Menschenrechtsansatz wegkommen, den [Ex-Aussenministerin] Ann Linde verkörpert hat. Die Idee ist, dass er den Weg für Kristerssons Besuch ebnet.»

Lässt Erdogan die Nato zappen?

Stoltenberg macht seinen Job als Generalsekretär: Er sieht über offensichtliche Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ebenso hinweg wie über Erdogans Kuschelkurs mit Moskau, um die Nato-Reihen gegen eine Bedrohung aus Russland zu schliessen.

Am heutigen Tag sollte der Norweger in Istanbul Präsident Erdogan treffen. Bis dato ist von dem Gespräch noch nichts öffentlich geworden.

Dass etwas Neues zu berichten sein wird, darf aber auch bezweifelt werden. Ein Indiz, wohin die Reise geht, wird der 8. November bringen, wenn der schwedische Premier bei Erdogan vorstellig wird. Dass Erdogan ihn zappeln weiter lässt, wäre trotz Stoltenbergs Effort nicht überraschend.

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