Vorstoss trotz Gegenoffensive«Es gibt einen Zwiespalt zwischen Putin und seinen Generälen»
tchs / SDA
19.8.2023
Russland ist in der Ukraine in der Defensive gefordert, doch russische Truppen stiessen bei Charkiw zuletzt vor. Ein Experte vermutet, dass Wladimir Putin diese Offensive aus politischen Gründen veranlasst hat.
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19.08.2023, 00:00
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Obwohl die ukrainische Gegenoffensive in vollem Gange ist, rücken russische Truppen in der Region Charkiw selbst vor.
Militärisch scheint der Vorstoss fragwürdig, ein Experte vermutet politische Gründe Putins hinter der Entscheidung.
Die Oblaste Donezk und Luhansk sollen aus Sicht des Kreml-Chefs vollständig «befreit» werden.
Während die ukrainische Gegenoffensive Kiews Armee bislang nicht die gewünschten Erfolge brachte, läuft in deren Schatten ein Vorstoss der russischen Truppen: Im ostukrainischen Gebiet Charkiw sind die Russen in der Offensive. In der vergangenen Woche liess die ukrainische Führung die Region Kupjansk räumen.
Doch warum bemüht sich Russland, insbesondere mit Blick auf die grossangelegte ukrainische Gegenoffensive, so vehement um Fortschritte in der Region Charkiw? Nach Ansicht Gustav Gressels, Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Affairs in Berlin, ist der militärische Wert des Frontabschnitts gering.
Gressel erklärt in einem Interview mit der deutschen Nachrichtenseite tagesschau.de: «Die Ukrainer vermuten, dass die russische Armee im Norden 100.000 Soldaten und 900 Kampfpanzer zusammengezogen hat - Kräfte, die sie eigentlich brauchen würde, um die ukrainischen Angriffe im Süden abzuwehren und dort rotieren zu können.»
Aus militärischen Gründen klingt dies aus russischer Sicht kaum nachvollziehbar, und auch die russischen Generäle würden sich laut Gressel gerne auf die Defensive verlegen, um die ukrainische Armee abzunutzen. Aber: «Es gibt einen Zwiespalt zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Generälen.»
Denn: Putin verlange, «dass die Oblaste Donezk und Luhansk vollständig ‹befreit› werden». Kupjansk liege auf der Nordroute in Richtung noch ukrainisch kontrollierter Städte: Slowjansk, Kramatorsk und Bachmut. «Deshalb ist zu vermuten, dass Putin diese mögliche Offensive aus politischen Gründen angeordnet hat», so der Experte gegenüber tagesschau.de.
Putin setzt auf den Abnutzungskrieg
Mag Putin auch in diesem Fall die Prioritäten anders setzen als die russische Militärführung, sei der russische Machthaber laut Gressel grundsätzlich auf einen langen Abnutzungskrieg eingestellt. Mehr noch: Putin kalkuliere damit, dass Russlands Siegchancen dann höher ausfallen würden. «Weil sich Russland mit dem Sanktionsregime arrangiert hat, wird es langfristig ein Vielfaches mehr an schweren Waffensystemen produzieren als der Westen.»
Das Depot des Westens sei schneller aufgebraucht als das russische. Auch eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn erkenne Gressel «keine ernsthaften Anstrengungen» die Rüstungsindustrie hochzufahren, abgesehen von Artilleriemunition. «Es müssten mehr Panzer, Schützenpanzer, Lenkwaffen und Flugkörper gebaut werden, um die Ukraine über mehrere Jahre im Krieg halten zu können und nicht jedes Mal aufs Neue zu diskutieren, was man der Ukraine aus dem Bestand liefert.»
Russische Hoffnungen auf Trump?
Ein schnelles Ende des Kriegs in der Ukraine sieht Gressel nicht kommen. «Man muss damit rechnen, dass dieser Krieg auf jeden Fall bis 2025 reichen wird.» Russische Hoffnungen auf einen vorteilhaften Deal ruhen demnach auf einer möglichen Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2024, «sodass Frühling 2025 der früheste Zeitpunkt wäre, zu dem der Krieg zu den eigenen - russischen - Bedingungen beendet werden könnte». Wenn jedoch der aktuelle Amtsinhaber Joe Biden gewänne - aktuell das wahrscheinlichere Szenario -, «ist damit zu rechnen, dass der Krieg über 2025 hinaus dauert».
Um weitere russische Erfolge in der Region zu verhindern, hat die ukrainische Armee Reserven an den Abschnitt Kupjansk verlegt. «Stellungen wurden verstärkt, gewisse methodische Empfehlungen gegeben und Reserven verlegt», sagte der Sprecher der Armeegruppe Ost, Serhij Tscherewatyj, am Dienstag im ukrainischen Nachrichtenfernsehen mit Blick auf Truppenverstärkungen bei Kupjansk. Das verhindere weitere Vorstösse des Gegners.
Die russische Armee war ukrainischen und russischen Militärbeobachtern zufolge bis Donnerstag auf etwa sieben Kilometer an die Stadt Kupjansk herangerückt. Die örtlichen Behörden haben zudem bereits eine Evakuierung von Zivilisten um die Stadt angeordnet. Kupjansk war erst im vergangenen Jahr im Rahmen einer erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive aus russischer Besatzung befreit worden.