Swissaid-Mitarbeiterin über Indien «Das Gesundheitssystem ist im Grunde schon kollabiert»

Von Maximilian Haase

29.4.2021

Die indische Katastrophe: Medizinisches Personal und Angehörige tragen den Sarg eines verstorbenen Corona-Patienten. Das Gesundheitssystem des Landes ist völlig überlastet. 
Die indische Katastrophe: Medizinisches Personal und Angehörige tragen den Sarg eines verstorbenen Corona-Patienten. Das Gesundheitssystem des Landes ist völlig überlastet. 
Channi Anand/AP/dpa

In Indien wütet die Pandemie, das Gesundheitssystem scheint hoffnungslos überlastet. Wie dramatisch die Situation ist, erfährt Swissaid-Mitarbeiterin Petra Engelhard täglich von ihren Mitarbeitern vor Ort.

Von Maximilian Haase

29.4.2021

Spitalbetten, Sauerstoff, Impfdosen: Bei dramatisch steigenden Infektionszahlen mangelt es in Indien aktuell an fast allem. Wie katastrophal die Lage wirklich ist, weiss Petra Engelhard von der Organisation Swissaid in Bern. Täglich berichten ihr die Mitarbeiter vor Ort, wie die Angst vor dem Virus Leben und Hilfsprojekte beeinflusst.

Frau Engelhard, welche Nachrichten über die Lage in Indien erreichen Sie von den Mitarbeitern vor Ort?

Es ist bedrückend. Mitarbeiter berichten mir, dass das Virus nun auch in den entlegenen Gegenden stärker wütet. Dort ist die Gesundheitsversorgung noch desolater als in den urbanen Gebieten. Auf dem Land wird Covid oft nicht einmal diagnostiziert, weil es keine Möglichkeiten dazu gibt. Die Leute haben Husten und dann sterben sie.

Wie reagieren die Menschen auf die Bedrohung?

Es herrscht sehr viel Angst. Vor allem, weil es keine Spitalplätze mehr gibt. Man bewegt sich sehr vorsichtig. Für die meisten Menschen in Indien ist es aber überhaupt nicht möglich, sich einzuschliessen. Sie müssen Tag für Tag ihr Brot verdienen. Man versucht natürlich wieder mehr auf die Hygienemassnahmen zu achten, trägt Masken.



Muss man mit einer weiteren Zuspitzung der Lage rechnen?

Wir haben schon jetzt sehr viele Tote, und die Ausbreitungsgeschwindigkeit ist enorm. Das heisst, die Todesrate könnte noch schneller ansteigen. Das Gesundheitssystem ist im Grunde schon kollabiert. Dazu kommen die wirtschaftlichen Folgen, die das Land extrem treffen. Ausserdem sind die Schulen seit März letzten Jahres geschlossen, nur ein paar Privilegierte können sich Fernunterricht leisten. Die Kinder lernen nicht mehr Lesen und Schreiben. Das wird eine ganze verlorene Generation.

Wie gehen Ihre Mitarbeiter mit der Situation um?

Zur Person
 Programme Manager bei Swissaid und für die Länderprogramme in Indien und Ecuador zuständig.
Petra Engelhard

Dipl. Ing. Petra Engelhard arbeitet als Programme Manager bei der Hilfsorganisation Swissaid und ist für die Länderprogramme in Indien und Ecuador zuständig.

Ich bin täglich mit meinen Mitarbeitern in Indien in Kontakt, unser Organisationsbüro befindet sich in Pune. Keiner geht mehr raus, alle arbeiten im Homeoffice. Die Angst ist auch bei den Mitarbeitern unserer Partnerorganisationen zu spüren. Die berichten, wie sich die Symptome im engsten Umfeld ausbreiten. Auch wir haben schon Leute an das Virus verloren. Damit muss man umgehen lernen.

Welche Auswirkungen hat die Situation auf Ihre Hilfsprojekte?

Viele Projekte, vor allem im landwirtschaftlichen Bereich, werden wir in den nächsten Wochen nicht wie geplant durchführen können. Einerseits, weil die Mobilität und der Transport unterbrochen sind. Zum anderen natürlich aufgrund der Sorge, sich anzustecken. Vor der zweiten Welle sind die Mitarbeiter in die Dörfer gefahren, um Workshops zu geben. Das gibt es nun nicht mehr. Wir werden den Kontakt aber nicht abbrechen lassen.

Welche Arbeit ist noch möglich?

In manchen Bereichen können wir noch arbeiten – über Computer und Handy. Geht es beispielsweise um unsere Projekte zur häuslichen Gewalt, kann das aber natürlich nur bis zu einem gewissen Teil gelingen.

Befürchten Sie mit den hohen Infektionszahlen auch einen Anstieg der häuslichen Gewalt?

Interessanterweise schien es zu Beginn der Corona-Pandemie in Indien fast einen Rückgang der häuslichen Gewalt gegeben zu haben. Weil die gesamte Verwandtschaft zu Hause war, konnte besser überwacht werden. Das hat sich im Laufe der Zeit dann wieder geändert, weil gerade die Wanderarbeiter aufgrund ihrer Jobs abermals weggingen. Aktuell gehen wir davon aus, dass die Zahlen sehr stark steigen. Die Männer sind wieder mehr daheim, und das schränkt die Möglichkeiten für die Frauen ein, sich Unterstützung zu suchen. Die Männer können noch besser kontrollieren, wohin die Frauen gehen und was sie machen.

Planen Sie aktuell neue Projekte, um auf die medizinisch dringende Lage zu reagieren?

Vor allem wollen wir ein medizinisches Nothilfeprogramm ins Leben rufen, um etwa auf den Dörfern Ambulanzen anzubieten. Denn dort ist die Versorgung besonders schlecht. Auch haben wir begonnen ein Projekt zu unterstützen, das in den ärmeren Regionen Bewusstseinsarbeit leistet. Über die Impfungen etwa kursiert in den sozialen Medien alles Mögliche. Da braucht es Aufklärung über Symptome und Wirkung, damit die Impfbereitschaft steigt.

Werden die Impfungen die Katastrophe eindämmen können?

Der Impfstoff ist sehr knapp, nicht nur aufgrund der explodierenden Infektionszahlen, sondern auch, weil Indien auch exportiert hat. Wir hoffen aber auf die zugesagten Hilfen aus den USA, aus Deutschland und der Schweiz. Damit sollte die Impfstoff-Produktion in den nächsten Wochen wieder anlaufen. Wobei es dennoch nicht genügen wird: Für 1,3 Milliarden Menschen bekommt man nicht so schnell ausreichend Impfstoff.



Es existieren einige Theorien darüber, warum die Pandemie Indien nun so besonders hart trifft. Glaubte man, das Virus sei überstanden?

Einerseits herrschte sicher eine gewisse Sorglosigkeit, gerade in den grossen Städten und bei der wohlhabenderen Schicht. Da wurde beispielsweise wieder viel in den Clubs gefeiert, etwa in Mumbai. Auf dem Land jedoch herrschte oft einfach die Notwendigkeit, wieder arbeiten zu gehen. Möglichkeiten wie Homeoffice gibt es dort nicht. Zudem wurde in den Medien oft das Bild kolportiert, dass Indien anders sei: Man habe eine dreittausendjährige Kultur, man schaffe das, man müsse sich um so etwas nicht so sehr kümmern. Die öffentliche Meinung, dass es schon ausgestanden sei, fand sicher in der Bevölkerung Nachhall.

Wie hat sich diese Stimmung nun gedreht?

Es herrscht eine starke lokale Solidarisierung innerhalb des Landes: Viele Unternehmen engagieren sich, stellen Mittel für Krankenhausbetten und Sauerstoff bereit. Das sah man schon in der ersten Welle: Viele spendeten, stellten karitative Mittel bereit, arbeitslose Wanderarbeiter wurden mit Essen versorgt.

Welche Massnahmen sind in der derzeitigen Situation am dringlichsten?

Wichtig ist die Nothilfe im medizinischen Bereich. Es gibt zu wenig Sauerstoff und zu wenige Betten in den Spitälern. Es müssen viel mehr Impfzentren aufgebaut werden. Vor allem muss die exponentielle Ausbreitung des Virus gestoppt werden. Ein kompletter Shutdown wie im März ist allerdings nicht realistisch – dann würden die Leute wieder ihre Arbeit verlieren.

Glauben Sie, dass die Hilfsorganisationen ihre Arbeit bald wieder aufnehmen können?

Wir gehen, positiv gedacht, davon aus: Wenn die Versorgung wieder anläuft, wenn die internationale Unterstützung ankommt, sollte sich die Lage in zwei, drei Monaten wieder normalisieren. Wir rechnen damit – oder: hoffen –, dass wir einen Grossteil der Aufgaben dann wieder aufnehmen können.