Schweizer lebt an der Oder «Überall lagen tote Fische»

Von Michael Angele

30.8.2022

Polen: Umweltkatastrophe an der Oder belastet Natur und Wirtschaft

Polen: Umweltkatastrophe an der Oder belastet Natur und Wirtschaft

Nach der Umweltkatastrophe an der Oder sind bislang 300 Tonnen tote Fische aus dem Fluss geholt worden. Während polnische und deutsche Behörden weiter nach der genauen Ursache für das massive Fischsterben suchen, zeigen sich bereits jetzt dramatische Folgen.

27.08.2022

Ein Emmentaler betreibt an der Oder eine Pension für Velofahrer und erlebt das grosse Fischsterben aus unmittelbarer Nähe. Die Umweltkatastrophe bewegt die Menschen, aber sie haben noch ganz andere Sorgen.

Von Michael Angele

30.8.2022

«Es stinkt fürchterlich, haben uns Kunden gesagt. Dann sind wir schauen gegangen. Überall lagen tote Fische. Wir sind aber rasch wieder nach Hause gegangen, denn wir haben viel zu tun», sagt Marcel.

Die Umweltkatastrophe in der Oder wird sich langfristig auf das Gewässer auswirken. Ein Schweizer Pensionsbetreiber in der Region hat aber ganz andere Sorgen.
Die Umweltkatastrophe in der Oder wird sich langfristig auf das Gewässer auswirken. Ein Schweizer Pensionsbetreiber in der Region hat aber ganz andere Sorgen.
Patrick Pleul/dpa

Marcel ist Schweizer, er betreibt den Radler's Hof am Oder-Neisse-Fahrradweg. Der Hof läuft. Die Auslastung der Zimmer liegt bei fast 100 Prozent. Viele Gäste blieben eine Nacht, dann radeln sie auf dem Damm weiter. Sie radeln durch die letzte intakte Auenlandschaft Europas. Ausgerechnet in diesem Paradies verendeten in diesem August rund 200 Tonnen Fisch, Muscheln, Krebse, Schnecken.

Die Oder ist ein Grenzfluss. Er trennt Deutschland und Polen. Auch wenn die Ursachen für das grosse Fischsterben immer noch nicht ganz geklärt sind, ist unstrittig, dass der Kochsalzgehalt im Wasser viel zu hoch war.

Salz entsteht bei vielen chemischen Prozessen, irgendwo muss etwas eingelaufen sein. «Ich würde schon das Fazit ziehen, dass es sich um eine menschengemachte Gewässerverschmutzung handelt», sagte die deutsche Bundesumweltministerin Steffi Lemke am Wochenende in einer Pressekonferenz.

Aus dem Emmental ins Oderbruch

Die Verursacher sitzen vermutlich in Polen. Die Behörden dort haben verschwiegen und scheibchenweise kommuniziert. Jetzt kam heraus, dass es Ende Juli in der Nähe von Opole einen Chemieunfall gegeben hat. Zudem wird seit geraumer Zeit die Oder auf polnischer Seite vertieft und begradigt. Auch das ist ein Angriff auf das Ökosystem des Flusses. Wird der Oder-Ausbau nicht gestoppt, befürchten Umweltverbände das nächste Fischsterben.

Wie gross also ist der Unmut über die Polen? Ich frage Marcel. «Bei den Menschen hier gar nicht. Anders sieht es vermutlich in der Regierung in Berlin aus, die brauchen einen Schuldigen. Erst war es das Quecksilber, jetzt liest man in der Lokalzeitung von der giftigen Goldalge, die verantwortlich sein soll. Es ist schlimm, aber mir ist eigentlich egal, wer schuld ist.»

Marcel ist im Emmental aufgewachsen. Das Emmental ist eng, das Oderbruch weit. Trotzdem erinnern ihn die Menschen im Oderbruch an die Menschen im Emmental, wie er sie von früher kennt. Eher verschlossen. Schicksalsergeben. Das Fischsterben ist ja nicht die erste Katastrophe.

1997 gab es die Jahrhundertflut. Die Schäden waren immens, aber es floss auch viel Geld in die abgehängte Region. Bis heute beziehen viele Menschen Arbeitslosengeld oder wursteln sich durch, aber sie leben in schmucken Dörfern.

Ganz so eng wie im Emmental ist es an der Oder nicht.
Ganz so eng wie im Emmental ist es an der Oder nicht.
Michael Angele

Fischsterben nicht die grösste Sorge

Viele sind Angler aus Leidenschaft, im Moment dürfen sie nicht fischen. Aber der Betreiber des Angelladens «Untere Fischereibehörde» in Seelow macht ihnen Mut. Es seien ja längst nicht alle Fische tot. Und sie hätten Jungfische aller Art gesehen. In absehbarer Zeit werde der Fluss wieder zum Angeln freigeben. Existenzängste hat er nicht.

Auch für Marcel ist das Fischsterben nicht die grösste Sorge. «Wir haben wegen des Fischsterbens keine einzige Stornierung gehabt, bis Ende Oktober sind wir voll.» Er hat zu wenig Zimmer, würde gern ausbauen, darf aber nicht. Das investitionsfeindliche Klima in Deutschland ist seine grösste Sorge.

Sein Hof ist auch im Winter geöffnet, dann macht Marcel Fondue. Mittlerweile leben viele Stadtflüchtige im Oderbruch. Sie schätzen das «Moitié Moitié» in einem Meer von Schnitzel und Bratkartoffeln. Auf der Speisekarte steht auch Fisch. Er ist nicht von hier. Sie haben es mit regionaler Küche versucht, zu teuer. Kaum ein Restaurant im Oderbruch führt heimischen Fisch. Selbst die regionale Spezialität, die Quappe, Schweizerdeutsch Trüsche, wird aus Dänemark importiert.

Kinderangeln trotz Fischsterben – da stimmt was nicht

Alles also halb so schlimm? Kommt drauf an. Dieses Wochenende fand das 22. Kienitzer Hafenfest statt. Es endete mit einem «Feuerwerk über der Oder» und begann mit einem «Kinderangeln». Kinderangeln. Tom S. kann es nicht verstehen. Hätte man es abgesagt, wären die Kinder zwar enttäuscht gewesen. Aber sie hätten über den Grund der Enttäuschung gesprochen. Tom ist einer der Stadtflüchtigen im Oderbruch. Er lebt auf einem alten Hof ein paar Kilometer vom Fluss entfernt. Das Fischsterben beschäftigt ihn sehr.

Es gebe ja nicht das eine Fischsterben, sagt er. Mittlerweile verenden die Fische durch die Verwesungsprozesse der Tonnen von toten Fischen, die noch auf dem Grund der Oder liegen. Und sie sterben nicht nur in der Oder, sondern auch in der alten Oder und in den Gräben, die sich durch das Oderbruch ziehen. Da vorne, Tom zeigt in Richtung Graben, lag auch ein riesiger Kadaver.

Der Kadaver, die Hitze, die Trockenheit und das Niedrigwasser, dazu bedrohliche invasive Arten wie die Goldalge: Etwas stimmt fundamental im Verhältnis von Mensch und Natur nicht, meint Tom, der Philosoph.

Auch der Mythos überlebte nicht

Der Symbolfisch der Oder ist der unheimliche, in der Tiefe lebende, mythenbehaftete Wels. «Wenn man in der Nacht mit einem Holz aufs Wasser schlägt, steigt er hoch und spricht mit uns Menschen.»

Auf den Fotos, die vom Fischsterben durch die Welt gingen, ist komischerweise nirgends ein kapitaler toter Wels zu sehen. Hat er seiner Vernichtung durch den Menschen also getrotzt? Ich frage den Besitzer der «Unteren Fischereibehörde». Leider nicht ganz. Sie hätten auch Wels-Kadaver aus dem Wasser gezogen, der grösste in Frankfurt/Oder, 2 Meter 44 lang.