Entspannung Fehlanzeige: Die Zeichen zwischen der EU und Russland stehen auf Konfrontation. Der Besuch des EU-Chefdiplomaten in Moskau konnte das nicht ändern – im Gegenteil. Und nun steht der Spanier auch noch selbst heftig in der Kritik.
Die Russland-Reise des EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell entwickelt sich zum Debakel. Gleichzeitig ist die Beziehung zwischen der EU und Russland am Tiefpunkt.
Borrell kündigte am Dienstag an, neue Sanktionen gegen Moskau vorschlagen zu wollen. «Die russische Regierung geht einen besorgniserregenden autoritären Weg», sagte der Spanier.
Allerdings ist Borrell nach seiner Reise selbst geschwächt. Mit seiner Forderung, den inhaftierten Kremlkritiker Alexej Nawalny freizulassen, blitzte er vergangene Woche ab. Dutzende EU-Abgeordnete fordern den Rücktritt des Top-Diplomaten. Ihrer Meinung nach wurde Borrell vorgeführt – und mit ihm die gesamte EU. Was ist passiert?
Schon bei der Pressekonferenz mit Russlands Chefdiplomaten Sergej Lawrow am Freitag meinten anwesende Korrespondenten, Borrell habe vergleichsweise unvorbereitet und überfordert gewirkt. Lawrow tönte, Russland mache sich nichts aus Sanktionen, sollten sie wegen Nawalny erlassen werden.
Die Kremlpropaganda führt Nawalny, der nur knapp einen Giftanschlag mit chemischem Kampfstoff überlebte, schon lange als Kriminellen und Verräter. Da musste Borrells Forderung in den Augen der Russen wie Hohn wirken. Russische Medienvertreter, die sich bisweilen aufführen, als gehörten sie zur Staatsführung, attackierten den Gast zudem: Welches Recht die EU habe, Polizeigewalt in Russland zu kritisieren, wenn es diese auch dort gebe.
Borrell hätte antworten können, dass in Moskau zuletzt Uniformierte, wie Videos zeigen, teils wahllos mit Schlagstöcken auf Journalisten und friedliche Demonstranten einschlugen und eintraten. Immer wieder beklagen Menschenrechtler, dass Polizeigewalt nicht verfolgt werde – anders als in der EU. Doch Borrell hatte kaum etwas entgegenzusetzen.
Zum echten Affront holten die Russen aber erst aus, als Borrell nicht mehr vor der Presse reagieren konnte. Nicht von Lawrow, mit dem er Stunden verbrachte, sondern aus den sozialen Medien erfuhr er von der Ausweisung dreier Diplomaten. Lawrow liess Borrell auflaufen. Und legte nach, als Borrell nicht mehr in Russland war.
Der EU-Vertreter tue in seinem Blog-Eintrag zur Reise gerade so, als wolle sich Russland absichtlich von Europa entfernen. Dabei zerstöre die EU schon seit 2014 die über Jahre aufgebaute «Architektur der vielfältigen Verbindungen» zu Russland. Lawrow warf der EU erneut vor, damals den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland angezettelt zu haben. Europa habe den Umsturz in der Ukraine und einen antirussischen Kurs provoziert. Dass Russland sich im Zuge des Sturzes von Präsident Viktor Janukowitsch damals unter anderem die ukrainische Schwarzmeerinsel Krim einverleibte und so EU-Sanktionen auslöste, erwähnte Lawrow nicht.
Borrell schilderte am Dienstag im EU-Parlament seine Sicht der Dinge. Ja, die Reise habe Risiken geborgen. Doch das habe er in Kauf genommen. Später ergänzte er, die Pressekonferenz hätte er offenbar anders angehen sollen – aber er sehe eine Pressekonferenz eben nicht als Boxkampf. Er glaube nicht, dass er nicht hätte nach Russland reisen sollen. Er habe Nawalnys Freilassung persönlich überbringen wollen. Aussenpolitik könne nicht nur über schriftliche Statements aus dem sicheren Büro gemacht werden. Doch das Fazit der Reise ist ernüchternd. Russland entferne sich immer weiter von der EU.
Ein Schluss, den Borrell daraus zieht: Er will den EU-Ländern neue Sanktionen vorschlagen. Es sei Sache der 27 Staaten, über den nächsten Schritt zu entscheiden. «Aber ja, das könnte Sanktionen einschliessen.» Er werde das Initiativrecht des Aussenbeauftragten nutzen und Sanktionen vorschlagen. Dass neue Sanktionen kommen, gilt als sicher. Fraglich ist jedoch, wie weitgehend sie sein werden.
Für diesen Kurs wurde Borrell im EU-Parlament unterstützt – doch kassierte er auch heftige Kritik. Schon vorher hatten mehr als 80 Abgeordnete in einem Brief an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen deutlich gemacht, dass Borrell ihrer Ansicht nach nicht mehr haltbar ist. «Wir glauben, dass die Präsidentin der Europäischen Kommission handeln sollte, falls Herr Borrell nicht freiwillig zurücktritt.» In dem Schreiben ist von «erniedrigenden Entwicklungen» während des Moskau-Besuchs die Rede und vom Versagen Borrells, für die Interessen und Werte der EU einzustehen. Von der Leyen – die wegen des holprigen Impfstarts in der EU selbst unter Druck steht – hatte allerdings schon am Vortag über ihren Sprecher ausrichten lassen, dass Borrell ihren Rückhalt habe.
Im Plenum gab es weniger Rückhalt. Der Besuch sei peinlich gewesen, ein Fehler, Borrell habe sich zum Deppen gemacht, sei in eine Falle gelaufen, hiess es insbesondere aus den Reihen der Konservativen und Rechtsnationalisten. Auch Vertreter der Christdemokraten und der Liberalen äusserten sich kritisch. Die Rücktrittsforderung teilte die Mehrheit der Abgeordneten jedoch nicht.
«Das Parlament gibt Ihnen eine gelbe Karte», sagte etwa die Liberale Hilde Vautmans. Reinhard Bütikofer von den Grünen beschwichtigte, Borrell habe nicht zuletzt wegen fehlender Einigkeit der EU-Staaten schlechte Karten gehabt. Und die Sozialdemokratin Kati Piri nahm Borrell in Schutz. Sie forderte eine einheitliche Strategie der EU gegenüber Russland. Der CDU-Abgerodnete Michael Gahler sagte, der Besuch müsse die Augen öffnen. Es solle keine Politik der Beschwichtigung mehr geben.