Provokant am rechten Rand Frankreichs Eric Zemmour treibt Wahlkämpfer mit Hassreden vor sich her

Von John Leicester, AP

27.10.2021 - 06:41

Ein Mann entfernt am 26. Oktober in Biarritz Plakate, die den französischen Publizisten Eric Zemmour zeigen. Zemmour, den Kritiker am extremen Ende der äussersten Rechten sehen, liebäugelt mit einer Kandidatur bei der französischen Präsidentschaftswahl im April.
Ein Mann entfernt am 26. Oktober in Biarritz Plakate, die den französischen Publizisten Eric Zemmour zeigen. Zemmour, den Kritiker am extremen Ende der äussersten Rechten sehen, liebäugelt mit einer Kandidatur bei der französischen Präsidentschaftswahl im April.
Bild: Keystone/AP Photo/Bob Edme)

Offiziell ist Eric Zemmour noch nicht einmal Präsidentschaftskandidat in Frankreich. Doch bestimmt er mit seinen Hassreden gegen Muslime und Zuwanderung die Debatten. Sogar das Vichy-Regime verharmloste er, das mit den Nazis kollaborierte.

Von John Leicester, AP

Einer der Überlebenden erinnert sich noch, wie die Kleinsten wimmerten. 99 Kinder und 751 Erwachsene wurden in Transport Nr. 63 gezwängt, gequält von Hunger und Durst rangen sie nach Luft. Am 17. Dezember 1943 um 12.10 Uhr verliess der Zug Paris und fuhr nach Auschwitz.

Fast alle Insassen wurden ermordet, darunter auch die dreijährige Francine Baur, ihre neunjährige Schwester Myriam, ihre Brüder Antoine und Pierre (sechs und zehn Jahre alt) und ihre Eltern Odette und André. Ihre französische Staatsbürgerschaft war nichts mehr wert im Vichy-Regime, das 1940 nach der Niederlage der Dritten Französischen Republik gegen Deutschland errichtet wurde, mit den deutschen Besatzern Frankreichs kollaborierte und die Nazi-Vernichtungspolitik unterstützte.

Deshalb war André Baurs Grossneffe, Ariel Weil, auch empört, als er jüngst bei Twitter die unwahre Behauptung las, dass das Vichy-Regime die französischen Juden vor dem Holocaust bewahrt habe. Weil ist Bürgermeister für das Stadtzentrum von Paris, und viel schwerer wiegt in seinen Augen, dass die falsche Aussage ausgerechnet von einem potenziellen Präsidentschaftskandidaten kam, der selbst Jude ist.



Mehrfach wegen Hassreden verurteilt

Es handelt sich um den Fernsehkommentator und Autor Eric Zemmour, der schon mehrfach wegen Hassreden verurteilt worden ist und dessen Hetze gegen Islam und Zuwanderung in dieser frühen Phase vor den Präsidentschaftswahlen im April begeisterte Anhänger findet. Zemmour füllt ganze Säle mit zahlenden Zuhörern, vor denen er sich als französischer Trump gibt, der den Sprung vom Fernsehbildschirm in den Elysée-Palast schaffen kann. Offiziell ist Zemmour noch nicht als Kandidat ausgerufen worden, doch bislang bestimmt er den Verlauf und Tenor der Wahlkampf-Debatten. Seine Zustimmungszahlen erreichen mittlerweile durchgängig zweistellige Werte.

Wie der frühere US-Präsident Donald Trump besitzt Zemmour ein Geschick dafür, Aufsehen zu erregen. Ein Video etwa, in dem er auf einer Sicherheitsmesse ein Gewehr auf Journalisten richtet, wurde millionenfach angesehen. So entzieht Zemmour den bereits erklärten Präsidentschaftskandidaten wichtige Sendezeit. Wenn er zudem gegen Zuwanderung hetzt und die aus seiner Sicht tödliche Gefahr, die davon ausgeht, fällt es seinen Konkurrenten schwer, die Debatte wieder auf die Themen zu lenken, die ihnen wichtig sind, wie den Kampf gegen den Klimawandel oder den Wiederaufbau nach der Pandemie.

Zemmour verhält sich wie ein Präsidentschaftskandidat, ist aber noch keiner. Seine Unterstützer werben um Spenden und den Rückhalt von gewählten Politikern, die potenzielle Bewerber für eine Kandidatur benötigen. Als ein Aussteller bei besagter Sicherheitsmesse ihm das Gewehr reichte und sagte: «Wenn Sie Präsident sind, Herr Zemmour», warf der ein: «Ja.» – Eine fürchterliche Vorstellung für französische Juden, die entsetzt darüber sind, wie Zemmour das Vichy-Regime von Marschall Philippe Pétain verharmlost.

Nachfahre algerischer Berberjuden

Dass Zemmour selbst stolzer Nachfahre algerischer Berberjuden ist, schmerzt jene umso mehr, die Verwandte im Holocaust verloren haben. «Nur weil er jüdisch ist, tut er etwas, das niemand anderes tun kann, und das ist abstossend», sagt Bürgermeister Weil im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP. «Geschichte ist kompliziert, aber das hier ist sehr einfach: Pétain hat die französischen Juden nicht geschützt.» 74'182 Juden wurden aus Frankreich deportiert, die meisten wurden im Vernichtungslager in Auschwitz getötet.

Im Februar hat ein Pariser Gericht Zemmour von dem Vorwurf freigesprochen, er habe Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestritten, was in Frankreich illegal ist. In einer Fernsehdebatte 2019 hatte er behauptet, Pétain habe die französischen Juden vor dem Holocaust bewahrt. In dem Urteil hiess es, die Deportation von ausländischen und französischen Juden «wurde mit der aktiven Beteiligung der Vichy-Regierung, seiner Beamten und seiner Polizei durchgeführt».

Zemmours Aussagen negierten Pétains Rolle in der Vernichtung.  Das Gericht aber sprach Zemmour letztlich frei, weil er im Eifer des Gefechts gesprochen habe. Es stellte auch fest, dass Zemmour während der Verhandlung unterschieden habe zwischen der Formulierung, dass «französische Juden» gerettet worden seien, was er für richtig halte, und der Aussage, dass «die französischen Juden» gerettet worden seien. Dieser Generalisierung stimme Zemmour nicht zu.

Anwälte gehen gegen Zemmours Freispruch rechtlich vor

Doch im September sprach er in einem Interview wieder von «den französischen Juden»: «Ich sage, dass Vichy die französischen Juden geschützt hat und die ausländischen Juden ausgeliefert hat.» Und er ergänzte: «Das ist abscheulich, weil diese armen Menschen gestorben sind.» Genau dieses Interview wollen Anwälte nun anführen, wenn sie gegen Zemmours Freispruch rechtlich vorgehen. Im Januar soll es dazu eine Anhörung geben.

Die grösste politische Bedrohung stellt Zemmour für Marine Le Pen und ihre rechtsextreme Partei Rassemblement National dar. Seit sie 2017 die Präsidentschaftswahl gegen Emmanuel Macron verlor, hat Le Pen einige ihrer politischen Forderungen abgeschwächt in der Hoffnung, mehr Menschen damit anzusprechen. Doch Zemmour sägt an ihrer Basis, offenbar gelingt es ihm, Le-Pen-Wähler abzuwerben, die glauben, sie sei weich geworden.

Einige Umfragen sehen Le Pen und Zemmour Kopf and Kopf, doch beide liegen sie deutlich hinter Macron, der voraussichtlich wieder antreten wird. Obwohl beide die Zuwanderung als Bedrohung für die französische Identität darstellen, benutzt Zemmour dafür eine Sprache, die Le Pen widerstrebt. Kritiker sehen ihn am extremen Ende der äussersten Rechten.

Keine Äusserungen mehr zu Vichy

In einem Land, das sich offiziell als blind gegenüber Hautfarben gibt und wo die öffentliche Diskussion darüber nicht gern gesehen wird, zählt Zemmour zu den wenigen politischen Figuren, die öffentlich zwischen Hautfarben unterscheiden.

Zu Vichy will er sich aber nicht mehr äussern: «Ich spreche nicht mehr über historische Einzelheiten, über die Historiker diskutieren», sagt Zemmour. Doch für französische Juden ist der Schaden bereits angerichtet. Manche fürchten, er habe die jahrzehntelangen Bemühungen von Holocaust-Forschern beschmutzt, den Schrecken der Nazi-Zeit unauslöschlich zu dokumentieren. «Er bestreitet etwas, das passiert ist, das nicht bestritten werden kann», sagt Eugénie Cayet, 84, deren Vater von Paris nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. «Was ist sein Ziel? – Alle Stimmen von Le Pen zu kriegen.»