«Für manche gibt es nur noch Gras zu essen» So schlimm ist die Hungersnot im Gazastreifen

tafi

20.3.2024

Hunger im Gazastreifen

Hunger im Gazastreifen

Mehr als fünf Monate nach den israelischen Boden- und Luftangriffen, die als Reaktion auf den Hamas-Angriff vom 7. Oktober eingeleitet wurden, herrscht im Gazastreifen ein weit verbreiteter Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und sauberem Wasser.

20.03.2024

Der Krieg und nur schleppend verlaufende Hilfslieferungen bringen Leid von bisher unbekanntem Ausmass in den Gazastreifen. Expert*innen warnen, eine Hungersnot stehe kurz bevor. Dabei ist sie schon längst da.

tafi

20.3.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Wegen der humanitären Krise im Gazastreifen warnen internationale Expert*innen, dass in Teilen Gazas eine Hungersnot droht.
  • Ein Arzt aus dem nördlichen Teil des Gazastreifens schildert, wie schlimm die Lage schon jetzt ist. So müssen Kinder einen ganzen Tag lang mit ein paar Pommes-Chips auskommen.
  • UNO und Betroffene sehen Israel in der Pflicht, als Besatzungsmacht die Ernährung der Bevölkerung im Gazastreifen sicherzustellen.

Mit deutlichen Worten kritisiert Volker Türk, UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, das Vorgehen Israels: «Das Ausmass, in dem Israel die Einfuhr von Hilfsgütern in den Gazastreifen einschränkt [...] kann auf den Einsatz von Hunger als Kriegsmethode hinauslaufen, was ein Kriegsverbrechen darstellt.»

Die humanitäre Krise im Gazastreifen ist auch für die Unicef-Leiterin Catherine Russel «schockierend». Die Vereinten Nationen und zahlreiche Expert*innen haben erst Anfang der Woche gewarnt, dass eine Hungersnot unmittelbar bevorstehe.

Aber eigentlich ist sie schon da. Wie sehr die Menschen in Gaza leiden, ist schwer vorstellbar. Doch nun schildert ein Arzt im britischen «Guardian», wie schlimm die Lage bereits jetzt ist.

Tierfutter und Vogelfutter, um zu überleben

Mahmoud Shalabi arbeitet für die britische Hilfsorganisation «Medical Aid für Palestinians» im nördlichen Teil des Gazastreifens. Dort gäbe es schon jetzt praktisch gar nichts mehr zu essen: «Die Menschen essen Tierfutter oder Vogelfutter, um zu überleben. Für manche gibt es nur noch Gras.»

In den vergangenen Monaten habe man eine zunehmende Verschlechterung der Ernährungssituation festgestellt, bestätigen auch die Fachpersonen der aus verschiedenen UNO-Organisationen und Hilfsgruppen bestehenden IPC-Initiative für die Analyse von Nahrungskrisen.

Die Initiative hat ein mehrstufiges System entwickelt, mit dem beurteilt werden kann, wie viele Menschen wie stark von Hunger betroffen sind. Die höchste Stufe 5 wird mit «Hungersnot-ähnlichen Zuständen» beschrieben. Rund 1,1 Millionen Menschen im abgeriegelten Gazastreifen – die Hälfte der Bevölkerung – befindet sich schon jetzt in der schlimmsten Notlage.

Die Menschen opfern alles für ihre Kinder

Shalabi bestätigt die nüchternen Zahlen mit emotionalen Worten: «Wenn ich auf den einstmals belebten Markt des Flüchtlingslagers Jabalia gehe, gibt es keine Stände mehr und keine Lebensmittel zu kaufen. Reis, Linsen und Bohnen sind verschwunden, übrig geblieben sind nur Gewürze und extrem teure Nüsse.» An die kleinen Snacks, die Kinder früher bekommen hätten, sei gar nicht zu denken.

Einige Menschen, so Shalabi, würden mit nur einer Tasse Kaffee pro Tag überleben. «Sie opfern alles, was sie an Nahrungsmitteln bekommen können, für ihre hungernden Kinder.» Kürzlich habe er einen Mann beobachtet, der seinen beiden Kindern ein paar Chips gab: «Ich erinnere mich, wie er sagte: ‹Passt auf, dass ihr eure Portionen richtig berechnet, denn ich habe nichts mehr übrig, und das ist euer Essen für den Tag›.»

Im nördlichen Gazastreifen sind nach Erkenntnissen des UNO-Kinderhilfswerks Unicef 31 Prozent der Kinder unter zwei Jahren akut mangelernährt. Im Januar seien es noch 15,6 Prozent der Kinder gewesen, teilte die Organisation kürzlich mit.

In der Verzweiflung verlieren die Menschen ihre Würde

Die Menschen in Gaza hätten in den vergangenen Monaten stark an Gewicht verloren: im Durchschnitt zwischen 10 und 30 Kilogramm. «Auch meine Kinder und ich haben abgenommen. Meine Kollegen zu Hause sind schockiert, wenn sie mich auf Fotos sehen», erzählt der Arzt.

Die Kolleg*innen vor Ort müssen sich mit einer Handvoll Datteln und Wildkräutersuppe begnügen: «Das Gesundheitspersonal ist erschöpft und leidet unter körperlicher Schwäche, während es rund um die Uhr arbeitet, um Patienten zu behandeln.»

Die winzige Menge an Hilfsgütern, die nach Gaza gelangt, komme vor allem im Norden gar nicht bei den Menschen an. Oder sie werde derart chaotisch verteilt, dass die Menschen in der Verzweiflung ihre Würde verlieren und die Schwächsten ohne jegliche Hilfe zurückgelassen werden.

«Hunderte von Menschen haben den Versuch, Lebensmittel für ihre Familien zu bekommen, mit ihrem Leben bezahlt», sagt Mahmoud Shalabi und fordert von Israel, Hilfsgüter in den Gazastreifen zu lassen.

Hilfe ist eigentlich nur ein paar Kilometer entfernt

«Die Geschwindigkeit, mit der sich diese katastrophale Hungerkrise bei Kindern im Gazastreifen entwickelt hat, ist schockierend, insbesondere, da die dringend benötigte Hilfe nur ein paar Kilometer entfernt bereitsteht», sagt auch Unicef-Leiterin Catherine Russell mit Blick auf Israel. Seit Dezember warnen UNO-Organisationen vor der Gefahr einer Hungersnot im Gazastreifen.

Als Besatzungsmacht habe Israel die Pflicht, die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und medizinischer Betreuung zu versorgen. «Israel muss sicherstellen, dass die Bevölkerung auf sichere und menschenwürdige Weise Zugang zu dieser Hilfe hat», fordert Menschenrechtskommissar Volker Türk.

Hintergrund der Not im Gazastreifen sind massive Bombardierungen und eine Bodenoffensive Israels in dem Küstengebiet in den vergangenen Monaten. Das Militär Israels reagiert damit auf das schlimmste Massaker in der Geschichte des Landes, bei dem Terroristen der islamistischen Hamas sowie anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel rund 1200 Menschen ermordet und 250 entführt hatten.

Mit Material der Nachrichtenagentur DPA.

Die Kinder hungern am schlimmsten: Ein Arzt berichtet aus dem nördlichen Gazastreifen wie katastrophal die humanitäre Krise wirklich ist.
Die Kinder hungern am schlimmsten: Ein Arzt berichtet aus dem nördlichen Gazastreifen wie katastrophal die humanitäre Krise wirklich ist.
Bild: Keystone