Ukrainische Soldaten über die Front im Osten«Es ist die Hölle auf Erden»
Von Francesca Ebel, AP
5.7.2022 - 18:00
Nach vier Monaten Krieg gewinnen die russischen Angreifer im Osten an Boden. Ukrainische Soldaten berichten von ständigem Beschuss, Tod und Verstümmelungen. Wie halten sie das aus?
DPA, Von Francesca Ebel, AP
05.07.2022, 18:00
AP/toko
Geschwärzte Wälder und bis zum Erdboden abgebrannte Städte. Kameraden mit abgerissenen Gliedmassen. Beschuss, so unablässig, so unerbittlich, dass nichts anderes möglich ist, als im Schützengraben zu liegen und zu beten.
Das sind Schilderungen ukrainischer Soldaten, die von der Front in der Donbass-Region zurückgekehrt sind, dem Schauplatz einer brutalen russischen Offensive. Sie beschreiben das Leben in diesem zermürbenden und grausamen Krieg als geradezu apokalyptisch.
«Abgebrannte Wüste»
In Gesprächen mit der Nachrichtenagentur AP klagten manche über chaotische Organisation, über Fahnenflüchtige und psychische Probleme, verursacht durch ständigen Beschuss. Andere sprachen von hoher Moral, Heldentum ihrer Kameraden und einer unerschütterlichen Bereitschaft, weiterzukämpfen, auch wenn die besser ausgerüsteten Russen zunehmend an Boden in der Kampfzone gewinnen.
Leutnant Wolodymyr Nasarenko ist Vizekommandeur des Swoboda-Bataillons der ukrainischen Nationalgarde und war mit Truppen zusammen, die sich auf Befehl militärischer Vorgesetzter aus Sjewjerodonezk zurückzogen. Er erzählt, dass russische Panzer im Zuge einmonatiger Kämpfe sämtliche potenziellen Verteidigungspositionen vernichteten und eine Stadt mit 101'000 Einwohnern vor dem Krieg in eine «abgebrannte Wüste» verwandelten. «Sie beschossen uns jeden Tag», sagt der 30-Jährige. «Es waren Sperrfeuer gegen jedes Gebäude. Die Stadt wurde systematisch dem Erdboden gleichgemacht.»
Auf drei Seiten umzingelt
Zu jenem Zeitpunkt war Sjewjerodonezk eine von zwei grösseren ukrainisch kontrollierten Städten in der Provinz Luhansk, wo prorussische Separatisten vor acht Jahren eine – nicht anerkannte – Republik ausriefen. Als am 24. Juni der Befehl zum Rückzug kam, waren die Ukrainer auf drei Seiten umzingelt und ihre Verteidigungsstellung eine Chemiefabrik, in der auch Zivilisten Schutz gesucht hatten.
«Wenn es irgendwo eine Hölle auf Erden gab, war es in Sjewjerodonezk», sagt Artem Ruban, ein Soldat in Nasarenkos Bataillon. «Die innere Stärke unserer Jungs ermöglichte es, die Stadt bis zum letzten Augenblick zu halten.» Sie hätten unter unmenschlichen Bedingungen kämpfen müssen – und dennoch bis zum Ende gekämpft, sagt Ruban. «Aufgabe war es, den Feind zu zerstören, komme, was da wolle.»
Vor diesem Hintergrund betrachtet Nasarenko die ukrainische Operation in Sjewjerodonezk als «einen Sieg», auch wenn die Stadt am Ende von den Angreifern eingenommen wurde. Den Verteidigern sei es gelungen, die Zahl der Opfer zu begrenzen, indem sie den russischen Vormarsch viel länger verzögert hätten als erwartet, sagt der Leutnant. Dadurch seien die russischen Ressourcen ausgedünnt worden.
Sowohl Nasarenko als auch der Soldat unter seinem Befehl äusserten die Zuversicht, dass die Ukraine alle besetzten Gebiete zurückerobern und Russland besiegen werde. Sie versicherten, dass die Moral sehr gut sei. Andere Soldaten, die grösstenteils vor der Invasion über keine Kampferfahrung verfügten und anonym bleiben oder nur ihre Vornamen nennen wollten, äusserten sich pessimistischer.
Dazu zählt Heeressoldat Oleksij, der bereits seit 2016 im Kampf gegen die von Moskau gestützten Separatisten eingesetzt war und soeben – schwer hinkend – von der Front zurückgekehrt ist. Wie er schildert, wurde er auf dem Schlachtfeld von Solote verletzt, einer Stadt, die inzwischen ebenfalls von den Russen besetzt ist. «Im Fernsehen zeigen sie alle schöne Bilder von den Frontlinien, die Solidarität..., aber die Wirklichkeit ist sehr anders», sagt Oleksij.
Er glaubt nicht, dass mehr westliche Waffen etwas am Verlauf des Krieges ändern würden. Seinem Bataillon ging die Munition binnen weniger Wochen aus, und zu einem Zeitpunkt hätten die Soldaten wegen des unablässigen Beschusses nicht einmal in den Schützengräben stehen können, sagt er. Die Erschöpfung ist seinem Gesicht noch deutlich anzusehen.
Ein ranghoher Mitarbeiter im Präsidentenbüro sprach im Juni von 100 bis 200 getöteten ukrainischen Soldaten pro Tag, aber bislang sind keine offiziellen Gesamtzahlen bekanntgegeben worden. Oleksij sagt, dass seine Einheit in den ersten drei Tagen der Kämpfe 150 Männer verloren habe, viele seien verblutet, weil Evakuierungen wegen des andauernden Beschusses immer nur nachts möglich gewesen seien.
Täglich Marihuana gegen das Grauen
Zwei andere von der AP interviewte Soldaten waren Büroangestellte, bevor die Invasion am 24. Februar begann, und wurden unmittelbar nach Abschluss ihrer Erstausbildung an die Frontlinien im Osten geschickt. Wie sie schildern, haben sie «schreckliche Organisation» und «unlogische Entscheidungsfindung» beobachtet, und viele in ihrem Bataillon weigerten sich zu kämpfen. Einer der Soldaten sagt, dass er täglich Marihuana rauche: «Sonst würde ich den Verstand verlieren, ich würde desertieren. Es ist die einzige Weise, wie ich damit fertig werde.»
Ein 28-jähriger früherer Lehrer in Slowjansk beschreibt das Leben an der Front als völlig unterschiedlich vom zivilen, mit einem anderen Wertesystem und emotionalen Höhen und Tiefen. Freundschaft mit seinen Kameraden sorge für Lichtblicke, aber er hat auch Fälle extremer Erschöpfung beobachtet, «sowohl physisch als auch psychisch», Soldaten mit Anzeichen eines posttraumatischen Stresssyndroms. «All diesen Horror mit deinen eigenen Augen zu sehen – die Toten, die abgerissenen Gliedmassen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Psyche von jemandem das aushält», sagt er.
Aber auch dieser junge Mann spricht von einer weiterhin hohen Motivation, das Heimatland zu verteidigen. «Wir sind bereit, das durchzustehen und mit zusammengebissenen Zähnen zu kämpfen, egal, wie hart und schwer es ist.»
Tatjana Chimion hat in Slowjansk ein Verteilzentrum für militärische Ausrüstung aufgebaut, das auch zu einem Treffpunkt für Soldaten in deren spärlicher Freizeit geworden ist. «Es kann so sein: Das erste Mal, wenn er kommt, lächelt er breit, kann sogar scheu sein. Das nächste Mal, wenn er kommt, ist Leere in seinen Augen. Er hat etwas durchgemacht, und er ist anders», erzählt sie.
Sie und ihre Mitarbeiter hofften indes, den Besuchern auch etwas Auftrieb geben zu können. «Wir umarmen uns, wir lächeln uns an, und dann gehen sie zurück auf die Schlachtfelder.»