Wagner-Deserteur packt aus «Ich warf mein Handy in den Schnee und rannte»

toko

18.1.2023

Der Ex-Söldner Andrei Medwedew ist spektakulär aus Russland über die Grenze nach Norwegen geflüchtet. Nun will er über «Putins Koch» und dessen Wagner-Truppe auspacken.

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18.1.2023

Nur mit Bademantel bekleidet durch die arktische Nacht: Der ehemalige Kommandant einer Einheit der berüchtigten Söldner-Truppe Wagner ist spektakulär nach Norwegen geflohen und hat dort Asyl beantragt. Nun berichtet Andrei Medwedew von seiner Flucht — und die ist filmreif.

«Ich warf mein Handy in den Schnee, drehte mich um und rannte in Richtung der Lichter der Häuser», erzählt Medwedew der Menschenrechtsplattform Gulagu (Nein zum Gulgag).

Russische Grenzwächter waren da schon hinter ihm her. Mit Schneemobilen, Spürhunden und Scheinwerfern setzten sie ihm nach, auch Schüsse sollen Medwedew zufolge abgefeuert worden sein.

Im Bademantel über den Stacheldrahtzaun

Nach Norwegen schaffte Medwedew es letztlich über den zugefrorenen  Grenzfluss Pasvikelva. Nur im Bademantel sei er schliesslich über einen Stacheldrahtzaun geklettert, behauptet der Ex-Söldner.

Erst dann kommen Dritte ins Spiel, welche die Angaben Medwedews bestätigen könnten. Der norwegischen Polizei zufolge hat der Ex-Söldner an einer Tür des nächstgelegenen Wohnhauses geklopft und um Hilfe gebeten. 

Die Beamten wurden zuvor bereits von den russischen Behörden informiert. Eine Grenzpatroullie der norwegeischen Streitkräfte nahm ihn schliesslich in Gewahrsam — wegen illegalen Grenzübertritts. Damit endet die Flucht des Andrei Medwedew in der Arktis, nachdem sie vier Monate zuvor in der Ukraine ihren Anfang nahm.

Überprüfen lassen sich diese Angaben allerdings nur schwer. Anwohnern zufolge soll in der ruhigen Gegend an der Grenze jedoch durchaus auffällig viel los gewesen sein. Sie erzählen laut norwegischen Medienberichten von Such­schein­werfern, Schnee­mobilen und jeder Menge aufgeregter Menschen.

«Aus Sicherheits- und Datenschutzgründen» könne sich die norwegische Einwanderungsbehörde zu der Angelegenheit «nicht weiter äussern», heisst es. Auch Polizei oder Streitkräfte machten keine weiteren Angaben.

Grausame Söldnertruppe

Dass man in Russland nicht zimperlich mit Deserteuren, politischen Gegnern und sonstigen unliebsamen Personen umgeht, ist hinlänglich bekannt.

Warum Medwedew bereit war, auf der Flucht in der Arktis Leben zu riskieren, verdeutlicht auch ein Bericht der unabhängigen russischen Nachrichten-Website Meduza. Demnach war Medwedew Kommandant bei jener Wagner-Einheit, zu der auch Jewgeni Nuzhin gehörte.

Bei Nuzhin handelt es sich um einen Mann, der angeblich als Strafgefangener zur Wagner-Gruppe kam und ebenfalls flüchtete, um schliesslich wieder in die Gewalt der Wagner-Gruppe zu kommen. Diese statuierte ein grausames Exempel an Nuzhin, indem sie ihn vor laufender Kamera mit einem Vorschlaghammer tötete.

Nur 4 von 30 überlebten

Medwedew hatte nach eigenen Angaben einen viermonatigen Vertrag mit der Söldnertruppe Wagner unterschrieben, den er keinesfalls verlängern wollte. Die «Realität des Krieges» habe ihn zu sehr schockiert, sagt er.

Demnach hatten die Offiziere der Einheit zunächst angekündigt, es sollen strategische Ziele bewacht werden. Stattdessen seien die Neuankömmlinge direkt an die Front geschickt worden. Nur vier der 30 Personen jener Einheit, die Medwedew kommandierte, überlebten den ersten Einsatz.

Nach Ablauf seines Vertrages habe Medwedew versucht, unterzutauchen. Verfolgt wurde er nach eigenen Angaben dabei sowohl von Mitgliedern seiner Truppe als auch vom berüchtigten russischen Geheimdienst FSB.

«Gesetzlose militärische Führung»

Anschliessend habe er in Murmansk Hilfe erhalten und sich bis zur russischen Grenzstadt Nikel im arktischen Nordwesten des Landes durchgeschlagen.

Der Söldner erzählte der Menschenrechtsplattform bereits im Dezember aus dem russischen Untergrund, dass ihm schnell klar geworden sei, wie sinnlos dieser Krieg sei. Die Befehle seien «dumm» gewesen, die militärische Führung «gesetzlos».

Der Ex-Sölder könne in «mindestens zehn Fällen» bezeugen, dass die Wagner-Truppen russische Kriegsverweigerer, Deserteure sowie ukrainische Kriegsgefangene hingerichtet hätten. Davon will er nun auch norwegischen Sonderermittlern berichten und unfangreich gegen «Putins Koch» auspacken, den berüchtigten Chef der Söldnertruppe Wagner.

Wie die norwegische Ermittlungsbehörde NCIS am Dienstag mitteilte, bestehe Kontakt mit Andrej Medwedew und seinem norwegischen Anwalt. Man werde Medwedew als Zeugen verhören, heisst es. NCIS ist an den Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs zu den Gräueltaten russischer Kräfte in der Ukraine beteiligt. «Ich bin bereit, gegen die Wagner-Gruppe und Prigoschin auszusagen», sagt Medwedew. 

Er befindet sich nun an einem geheimen Ort in Oslo.