Fenstersturz von russischem Politiker «Diese mysteriösen Todesfälle sind immer ein Signal»

Von Oliver Kohlmaier

28.12.2022

Unter seiner Führung kamen bereits zahlreiche Kritiker und Regimegegner unter mysteriösen Umständen ums Leben: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Unter seiner Führung kamen bereits zahlreiche Kritiker und Regimegegner unter mysteriösen Umständen ums Leben: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Sergey Guneev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Der mysteriöse Tod des russischen Regionalabgeordneten Pawel Antow erinnert an zahlreiche ähnliche Vorfälle. In den letzten Jahren stürzten auffällig viele Kreml-Kritiker aus Fenstern. Ein Rückblick.

Von Oliver Kohlmaier

28.12.2022

Russe, männlich, reich, fällt aus dem Fenster. Die Ähnlichkeit der Presseberichte ist zum Teil auffallend, auch wenn sich die mysteriösen Todesfälle meist in Russland abspielen.

Diesmal also Indien. Im östlichen Bundesstaat Odisha stürzt am Sonntag ein russischer Regionalabgeordneter und steinreicher Wurstfabrikant aus dem Fenster seines Hotels . Schon kurz nach Bekanntwerden am Dienstag äussert sich der russische Generalkonsul in Kalkutta und behauptet, die Polizei sehe an dem Vorfall nichts Verdächtiges.

Die jedoch sagt der «Hindustan Times», derzeit werde noch ermittelt. Es sei unklar, ob es sich um einen Unfall oder einen Suizid gehandelt habe. Der 65-jährige Antow sei demnach in Odisha unterwegs gewesen, um seinen Geburtstag zu feiern. Drei Tage zuvor war bereits einer der Begleiter Antows im gleichen Hotel an einem Herzinfarkt gestorben.

Während in russischen Medien davon kaum etwas zu lesen war, betonten ukrainische Blätter am Mittwoch, dass Antow den Krieg gegen die Ukraine in den sozialen Netzwerken als «Terror» bezeichnet hatte. Kurz darauf soll er einen entsprechenden Beitrag gelöscht und Treue auf das System gelobt haben.

Mehrere ähnliche Fälle

An einen Selbstmord glaubt ohnehin kaum jemand. Denn der Fall reiht sich ein in eine ganze Serie ähnlicher Vorfälle, bei denen alleine in den vergangenen Jahren auffällig viele Geschäftsleute, Politiker, Journalist*innen und Ärzt*innen aus Fenstern gefallen sind.

«Diese mysteriösen Todesfälle sind immer ein Signal an einen bestimmten Personenkreis, der diszipliniert werden soll», schreibt Russland-Kenner Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen auf Anfrage von blue News.

So liegt der letzte derartige Todesfall nur wenige Monate zurück. Im September stürzte Rawil Maganow, Vorstandschef des russischen Ölkonzerns Lukoil, aus dem Fenster des sechsten Stockwerks des Moskauer Zentralspitals. Die Polizei macht einen Suizid als Todesursache aus. Schliesslich, so hiess es der Agentur Interfax zufolge, hatte der mächtige Patient Antidepressiva eingenommen.

Ähnliche Todesfälle gab es auch im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. So stürzten etwa im Frühjahr 2020 drei Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens innerhalb weniger Wochen während der Arbeitszeit aus Fenstern, zwei davon starben. 

Jelena Nepomnyaschtschaja, eine Top-Ärztin, stürzte in einem sibirischen Spital ebenfalls aus dem Fenster – während einer Telefonkonferenz. Sie verstarb eine Woche später auf der Intensivstation.

«Der Tod muss auffällig sein, aber auch diffus»

Für heftige Diskussionen sorgte in Russland zudem der Tod des Lokalreporters Maxim Borodin, der sich mit seinen Enthüllungen über Korruption und Kriminalität einen Namen machte. Er stürzte 2018 aus seiner Wohnung im fünften Stock in Jekaterinburg.

Die Polizei meldet bei den Todesfällen meist rasch, es handle sich wahlweise um einen Suizid oder einen tragischen Unfall. 

«Der Tod muss auffällig sein, aber auch diffus genug, damit nicht der Staatsapparat zu deutlich als Mordmaschinerie in Erscheinung tritt», erklärt Osteuropa-Historiker Schmid.

Auch im Ausland ist niemand sicher

Wie im Fall von Pawel Antow ist auch im Ausland niemand sicher, nicht einmal in den USA. Im August diesen Jahres kam der Kremlkritiker und Nawalny-Vertraute Dan Rapoport in der Hauptstadt Washington ums Leben, er soll sich ebenfalls aus dem Fenster gestürzt haben.

Der «Spiegel» berichtet zudem vom Tod des Botschaftssekretärs Kirill Zhalo, der in Berlin offenbar aus einem oberen Stockwerk der russischen Botschaft stürzte. Dem Bericht zufolge galt der Mann bei den deutschen Sicherheitsbehörden als getarnter Mitarbeiter des russischen Inlandgeheimdienstes FSB. 

«Defenestration» wird schon im Alten Testament erwähnt

Neu ist die Methode des Fenstersturzes nicht. Bereits die Sowjets unter Stalin belebten einer Art Tradition wieder, die insbesondere im Mittelalter und in der frühen Neuzeit verbreitet war.

Bekanntheit erlangte der Dritte Prager Fenstersturz. Während des kommunistischen Umsturzes in der Tschechoslowakei 1948 war der Aussenminister Jan Masaryk eines der drei Kabinettsmitglieder, die sich nicht eindeutig positionierten. Gefunden wurde er schliesslich tot im Hof des Aussenministeriums – unter seinem Badezimmerfenster und im Schlafanzug.

Und bereits im Alten Testament wird eine Defenestration erwähnt. Das zweite Buch der Könige berichtet von Isebel, Königin des Nordreichs Israes, die auf Geheiss Jehus aus dem Fenster des Palasts geworfen wurde und zu Tode kam.

Zweiter Prager Fenstersturz

Der berühmteste Fenstersturz der Gesichte spielte sich gleichwohl ganz ohne russische Beteiligung ab, als rund 200 Vertreter der protestantischen Stände zur Prager Burg zogen und den Kanzleisekretär sowie zwei königliche Statthalter in einem Schauprozess in den Burggraben warfen.

Der zweiten Prager Fenstersturzes auf einem Flugblatt von 1618. Auf dieser zeitgenössischen Darstellung fliegen die drei Gestürzten allerdings auf einen Steinhaufen.
Der zweiten Prager Fenstersturzes auf einem Flugblatt von 1618. Auf dieser zeitgenössischen Darstellung fliegen die drei Gestürzten allerdings auf einen Steinhaufen.

Der Zweite Prager Fenstersturz löste im Mai 1618 den 30-jährigen Krieg aus und markiert einen Wendepunkt in der Geschichte Europas. Die drei Gestürzten hatten indessen Glück und überlebten, unter anderem wohl aufgrund ihrer dicken Mäntel.

Der Legende nach flogen sie auf einen Misthaufen.