«Sie haben gelogen» Zurückgebliebene Afghanen machen US-Regierung schwere Vorwürfe

Kathy Gannon, AP/tsha

2.9.2021

Hunderte Menschen versammelten sich in den letzten Tagen vorm Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul.
Hunderte Menschen versammelten sich in den letzten Tagen vorm Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul.
AP

Immer wieder gab es E-Mails und Anrufe mit der Aufforderung, zum Flughafen zu kommen. Doch die Hindernisse waren für viele Afghanen mit US-Papieren schier unüberwindlich.

Kathy Gannon, AP/tsha

2.9.2021

Bis in die letzten Tage der chaotischen US-Luftbrücke aus Kabul hat Dschaved Habibi Telefonanrufe der US-Regierung erhalten. Immer wieder versicherten die Anrufer dem Greencard-Inhaber, er, seine Frau und die vier Töchter würden nicht zurückgelassen. Er solle zu Hause bleiben und sich keine Sorgen machen. Die Familie werde evakuiert.

Doch am späten Montagabend hoben die letzten US-Flugzeuge vom Flughafen Kabul ohne ihn ab und Habibi rutschte das Herz in die Hose, als die militant-islamistischen Taliban sich mit Freudenschüssen als Sieger über die USA feierten. Habibi dagegen ist jetzt einer von Hunderten Greencard-Inhabern, die in der afghanischen Hauptstadt gestrandet sind. «Sie haben uns belogen», sagt er über die US-Regierung.

Auch Wais, der nur diesen Namen nennen will, ist zornig auf die US-Regierung. «Die sagen die ganze Zeit: ‹Wir arbeiten daran. Wir arbeiten daran.› Aber dann – nichts.» Sein Bruder Adschmal zeigt E-Mails der US-Regierung vor, in denen er und ein weiterer Bruder samt ihren Familien aufgefordert werden, zum Sullivan-Tor am Flughafen zu kommen. Alle 16 haben Notfall-Visa für die Evakuierung, doch geklappt hat es nicht.



US-Staatssekretärin Victoria Nuland will sich zu Einzelfällen nicht äussern. Sie sagt lediglich, man habe in den vergangenen 24 Stunden Kontakt zu allen US-Bürgern und Personen mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis für die USA aufgenommen, die die Evakuierungsflüge nicht erreicht haben oder aus anderen Gründen in Afghanistan festsitzen. Sie sollten auf weitere Informationen über Wege aus dem Land warten, die noch organisiert würden. «Wir werden ihnen direkt persönliche Anweisungen dazu übermitteln, was sie tun sollen, wann sie es tun sollen und wie die Regierung der Vereinigten Staaten glaubt, ihnen am besten dabei helfen zu können», verspricht Aussenministeriumssprecher Ned Price.

«Wir können nicht in die Menge hinein»

Indessen lobt Aussenminister Antony Blinken die Evakuierungen – trotz der chaotischen Szenen vor dem Flughafen, wo sich Tausende vor den Toren drängten. Er spricht von 100 bis 200 Zurückgebliebenen und versichert, alle US-Bürger, die Afghanistan verlassen wollten, würden herausgeholt. Doch viele Gestrandete peinigt immer noch die Erinnerung daran, wie sie zwei Wochen lang vergeblich versucht haben, in eines der US-Flugzeuge zu kommen.

Habibi ist Elektriker und hat seit 2015 mit einem Sondervisum in Richmond in Virginia gelebt. Im Juni sind er und seine Familie zum erstem Mal seit 2019 wieder nach Afghanistan gereist. Der Rückflug war für den 31. August geplant.



Am 18. August, wenige Tage nach dem Einmarsch der Taliban, habe er eine E-Mail von der US-Regierung bekommen, berichtet Habibi. Er und seine Familie würden evakuiert. Sie alle besitzen eine Greencard – bis auf die jüngste Tochter, die zweijährige Dunja, die sogar einen US-Pass hat. Weitere E-Mails forderten die Familie auf, zum Flughafen zu kommen. Doch in dem Wahnsinnsgedränge kamen sie nicht ans Tor heran. Die 15-jährige Tochter Madina sagt, sie und ihre jüngere Schwester seien beinahe niedergetrampelt worden.

«Es ist zu gefährlich», schrieb die Familie an die US-Regierung. «Wir können nicht in die Menge hinein.» Es folgten weitere Aufforderungen, zum Flughafen zu kommen. Nach einer Woche seien sie dann auch angerufen worden, sagt Madina, die fehlerfrei Englisch spricht. Die Anrufer aus Arlington in Virginia hätten sich als Angestellte der US-Botschaft zu erkennen gegeben und der Familie gesagt, sie solle jetzt im Haus bleiben, die Botschaft wisse, wo sie ist.

«Sie haben gelogen. Sie haben nichts getan.»

Adschmal erzählt, als er und seine Verwandten zum Flughafen gefahren seien, habe es dort heftiges Gewehrfeuer der Taliban gegeben. Da hätten sie lieber kehrtgemacht. Ein andermal sei er in einer E-Mail aufgefordert worden, frühmorgens an einer bestimmten Stelle in der Nähe des Flughafens zu warten, die Familie werde dort abgeholt. Sie hätten sechs Stunden gewartet, doch niemand sei gekommen.

Habibi berichtet, er und seine Familie hätten es noch vier-, fünfmal versucht. Er habe sogar Freunde und Verwandte organisiert, die sie als eine Art Sicherheitskordon durch die Menge lotsen sollten. Mindestens zweimal hätten sie es sogar bis in die Nähe der Tore geschafft. Er habe den US-Soldaten zugerufen und mit seinen Reisepapieren gewedelt. Die Soldaten hätten die Pässe geprüft, die Familie aber nicht durchgelassen. «Was soll die Greencard überhaupt bedeuten? – Nichts. – Sie haben nichts getan», sagt Habibi.

Als die Luftbrücke kurz vor dem Ende stand, kamen immer noch Anrufe aus Virginia. Madina berichtet, einer der Leute am anderen Ende habe versprochen: «Wir holen euch da raus, ihr werdet nicht festsitzen. Macht euch keine Sorgen. Wir wissen, wo ihr seid.» Sie hätten sogar versprochen, die Familie mit dem Auto abzuholen, sagt Habibi. «Sie haben gelogen. Sie haben nichts getan.»

Die Taliban hätten ihn noch nicht bedroht, sagt Habibi. Auch sonst habe ihn niemand belästigt. Angst habe er trotzdem. Nachrichten und schreckliche Einträge in sozialen Medien hätten ihn davon überzeugt, dass die Taliban ihn töten werden. Von jemandem, der tatsächlich ins Visier genommen worden sei, wisse er allerdings nicht. «Ich habe einfach Angst. Ich verfolge die Nachrichten», sagt Habibi. Er kenne viele Familien, die noch in Afghanistan seien. Einige hätten auch Greencards.

Madina berichtet, ihre frühere Grundschullehrerin Marcia Vigar Perez in Dumbarton habe Gebete für ihre sichere Rückkehr organisiert. «Sie rufen jeden Tag an», sagt die 15-Jährige.