Taliban festigen ihre Macht «Keine Angst», sagt der Sprecher mit Gewehren im Nacken

Von Philipp Dahm

31.8.2021

Nach dem US-Abzug aus Afghanistan sind nun die Taliban Herr im Haus: Die Fundamentalisten erhöhen den Druck auf Presse, Frauen und Söldner des Westens. Dabei nutzen sie auch noch die Waffen der Amerikaner.

Von Philipp Dahm

31.8.2021

Amerikas längster Krieg ist vorbei: Die letzten US-Soldaten haben den Flughafen von Kabul geräumt, womit die Taliban endgültig das Sagen in Afghanistan haben.

Die Machtübernahme ist jedoch ein laufender Prozess, der jedoch noch im Gange und nicht vollendet ist, wie die folgenden Beispiele zeigen: Vor den Fundamentalisten liegt viel Arbeit.

Das Volk soll kooperieren

Der Exodus aus Afghanistan ist für die Taliban ein Problem: Sie brauchen Bäcker, die die Versorgung aufrechterhalten, Beamte, die sie in die digitale Verwaltung einführen und Ingenieure, die sich um Strom- oder Wasserleitungen kümmern.

Das erklärt die Hand, die die Taliban gleich nach der Machtübernahme ausgestreckt haben: Toleranz und Vergebung haben sie gepredigt, doch dieses Credo scheint ihnen das Volk nicht abzunehmen – wie nicht zuletzt die verzweifelte Flucht vieler in den vergangenen Tagen gezeigt hat.

Dieser Gegensatz ist nun bei einer TV-Debatte offen zutage getreten: In der Sendung «Pardaz» des TV-Senders Peace Studio verliest der Sprecher eine Botschaft der Machthaber, nach der die Öffentlichkeit «kooperieren» und «keine Angst» haben soll – während bewaffnete Kämpfer hinter dem Journalisten stehen.

Die BBC-Reporterin Yalda Hakim, die aus Afghanistan nach Australien geflohen ist, nannte den Vorgang «surreal»: «So sehen politische Debatten im afghanischen TV jetzt aus. Fuss-Soldaten wachen über den Moderator», schreibt sie auf Twitter.

CIA-Milizen im Visier

Spätestens seit 2001 hat der US-Geheimdienst CIA in Afghanistan verschiedene paramilitärische Milizen aufgebaut, deren offizieller Auftrag Aufstandsbekämpfung lautet. Die Gruppen werden von den USA ausgerüstet, ausgebildet und bezahlt, um US-Spezialeinheiten zu decken und Taliban- und IS-Gruppen zu bekämpfen.

Die stärkste lokale Organisation, die Langley in 20 Jahren hochzieht, ist die Khost Protection Force (KPF), deren Stärke auf 3000 bis 10'000 Kämpfer geschätzt wird. Gleichzeitig hat die CIA einen staatlichen Geheimdienst aufgebaut: das National Directorate of Security (NDS), das 15'000 bis 30'000 Personen umfassen soll.

Der lange Arm der CIA in Afghanistan: NDS-Mitglieder führen am 4. Mai 2015 Taliban-Verdächtige in Jalalabad ab.
Der lange Arm der CIA in Afghanistan: NDS-Mitglieder führen am 4. Mai 2015 Taliban-Verdächtige in Jalalabad ab.
KEYSTONE

Dabei haben Milizen wie die KPF stets direkt an die CIA berichtet und standen stets über dem afghanischen Gesetz – etwa, wenn sie gezielt US-Feinde getötet haben. Auch Kriegsverbrechen sind der KPF schon vorgeworfen worden. Die Taliban können nun kein Interesse daran haben, diese Gruppen weiter gewähren zu lassen.

Zumal davon auszugehen ist, dass der Geheimdienst NDS ihnen nach und nach in die Hände fallen wird. Und dort weiss man, wer zu den Milizen gehört. Gruppen wie der KPF fällt mit dem US-Abzug auch der Sponsor weg: Wenn nicht neue Geldgeber wie etwa Saudi-Arabien einspringen, könnten sie versuchen, autonom einen Machtbereich aufzubauen – sofern die Taliban ihnen keinen Strich durch die Rechnung machen.

Taliban konsolidieren Macht mit US-Waffen

Ein Black-Hawk-Helikopter über Kandahar – angeblich gelenkt von Taliban-Piloten: Um gegnerische Gruppen wie die KPF, ISIS oder Anhänger der Ex-Regierung in die Schranken zu weisen, können die neuen Machthaber auf jede Menge US-Kriegsgerät zurückgreifen. Waffen im Wert von geschätzt 77,6 Milliarden Franken sollen den Besitzer gewechselt haben.

Der Black Hawk soll nur eines von 200 Flugzeugen und Helikoptern sein, die nun die Taliban nutzen. Im Gegensatz zu den 600'000 Pistolen und Gewehren brauchen die Fundamentalisten für fliegendes Kriegsgerät jedoch Fachleute: Piloten, aber auch Ausbilder oder Mechaniker für die Wartung. Zudem ist der Ersatzteil-Verschleiss bei den Maschinen gross: Die Grösse der Taliban-Luftwaffe wird schnell wieder abnehmen.

Frauen-Rechte: Vorzeige-Journalistin flieht

Die Freiheit der Presse dürfte in Afghanistan der Geschichte angehören – und auch von dem Versprechen, die Taliban würden die Rechte der Frauen wahren, ist wenig übriggeblieben: Die Tatsache, dass ihnen geraten wird, zu Hause zu bleiben, weil die Kämpfer es nicht gewohnt seien, sie zu «respektieren», spricht Bände.

Dass die Fundamentalisten nicht mit sich reden lassen, muss nun auch Beheshta Arghand am eigenen Leib erfahren: Die Journalistin des TV-Senders Tolo hat noch am 17. August Aufsehen erregt, als sie ein Interview mit einem führenden Taliban geführt hat: Es war das erste Mal, dass sich ein Taliban-Vertreter im TV mit einer Frau auseinandergesetzt hat.

«Ich sagte mir: ‹Eine muss den Anfang machen›», erinnert sich die 24-Jährige im Gespräch mit CNN. «Wenn wir zu Hause bleiben und nicht ins Büro gehen, werden sie sagen: ‹Die Damen wollen nicht arbeiten.› Aber ich sagte mir: ‹Geh arbeiten.› Und ich sagte dem Taliban-Mitglied: ‹Wir wollen unsere Rechte. Wir wollen arbeiten. Wir wollen – wir müssen – Teil der Gesellschaft sein. Das ist unser Recht.›»

Doch was die junge Journalistin danach liest, macht ihr Angst: Sie stellt Kontakt zur pakistanischen Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai her, die ihr die Ausreise ermöglicht. Sollte es die Sicherheitslage zulassen, würde Arghand gern zurückkehren – für ihr Volk, wie sie sagt. Doch derzeit scheint klar, dass es den Frauen dort deutlich schlechter gehen wird.

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