Gestörte Straftäter mit KriegstraumaIn Russland steigt die Angst vor den Wagner-Rückkehrern
dpa/tpfi
8.4.2023
Viele verurteilte Straftäter kämpfen in Russlands Krieg in der Ukraine auch um ein Leben in Freiheit. Rund 5000 von Kremlchef Putin Begnadigte sind inzwischen in den Alltag zurückgekehrt. Aber vielen – vor allem Frauen – macht das Angst.
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08.04.2023, 18:37
08.04.2023, 21:04
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin holte rund 50 Tausend russische Straftäter aus den Gefängnissen, um sie in der Ukraine an die Front zu schicken.
Für sechs Monate Dienst wurde ihnen die Freiheit versprochen.
Nun kehren die ersten begnadigten Kämpfer in ihre Heimat zurück.
Ein Wagner-Heimkehrer hat in seiner Heimatregion bereits eine 85-Jährige getötet.
Zu Tausenden kehren inzwischen ehemalige Häftlinge, die sich für den Krieg in der Ukraine verpflichtet haben, in den russischen Alltag zurück. «Sie sind zu echten Patrioten ihres Landes geworden», rühmt sich der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, der die verurteilten Straftäter im vergangenen Jahr in Gefängnissen des Riesenreichs anwarb. Sechs Monate sollten sie dienen – und im Gegenzug ihre Freiheit erlangen. «Mehr als 5000 haben ihre Verträge erfüllt», sagt Prigoschin. Die Zahl derer, die den Krieg nicht überlebten, nennt er nicht. Aber er sieht sie alle als Helden: die Toten und die Überlebenden.
Der Kreml in Moskau spricht nicht über die für solche Einsätze von Gefangenen im Kriegsgebiet nötigen Begnadigungen durch Präsident Wladimir Putin. Staatsgeheimnis! Die Dekrete des Kremlchefs dazu werden aber teils von den Familien der Betroffenen veröffentlicht.
Heldenbegräbnisse für frühere Schwerverbrecher
Der Putin-Vertraute Prigoschin geht dagegen offensiv mit dem in Russland nicht unumstrittenen Thema um. Legalisiert ist zwar weder Prigoschins Söldner-Armee noch die Möglichkeit für den Wagner-Chef, in Russlands Gefängnissen ein- und auszugehen. Aber der Warlord, der sich im Moment vor allem auf die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Bachmut im Gebiet Donezk in der Ukraine konzentriert, hat immer wieder Zugeständnisse durchgedrückt für seine Privatarmee.
Wagner-Deserteur: «Es tut mir leid, dass ich in der Ukraine gekämpft habe»
Er wolle über seine Erfahrungen im Krieg sprechen, damit «die Täter bestraft werden» für ihre Verbrechen in der Ukraine, sagte der nach Norwegen geflohene Ex-Kommandant der russischen Söldnertruppe im Reuters-Interview.
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Die Kämpfer sind nun in vielerlei Hinsicht den regulären russischen Streitkräften gleichgestellt. Der 61-jährige Prigoschin setzte auch Heldenbegräbnisse für im Krieg getötete frühere Schwerverbrecher durch, wenn Kommunen sich weigerten, ihnen solch eine letzte Ehre zu gönnen. Bisweilen ist der Widerstand in den Gemeinden gross, weil insbesondere Tötungsdelikte mancher Täter nicht vergessen sind.
Für Prigoschin spricht dagegen vieles für sein Modell der Kriegsführung auch mit Verurteilten. Er behauptet, dass die Erfahrung auf dem Schlachtfeld viele Straftäter davon abbringen würde, neue Verbrechen zu begehen. «Sie schätzen das Leben, sie wollen ihr Land lieben, sie wollen nicht ins Gefängnis zurück.» Nach Schätzungen kämpften zeitweilig rund 50’000 Strafgefangene in den Wagner-Reihen.
Russische Frauen besonders bedroht
Mittlerweile wirbt Prigoschin keine Straftäter mehr an. Er betreibt Rekrutierungszentren im Land, um unbescholtene Freiwillige für den Krieg zu gewinnen. Dass ehemalige Straftäter nicht willkommen seien, sagt für ihn viel aus über sein Land und die dortige Elite: Russlands Bürokraten wollten lieber in einer heilen Welt leben. Ehemalige Straftäter hätten wegen des Geflechts an Beziehungen und der in diesen Kreisen verbreiteten «Speichelleckerei» auch keine Chance, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden, ätzt er.
«Das System gibt ihnen keine Gelegenheit, zu einem normalen Leben zurückzukehren», sagt er über die begnadigten Straftäter, die im Krieg gekämpft haben. Sie hätten zwar durch den Kampf ihre Schuld gegenüber dem Land beglichen. Trotzdem sehe die Elite diese Art von «Heroismus» als Gift. Sie wolle keine verurteilten Straftäter in ihren Reihen. Und der Staat wolle für die Geschichte alle davon überzeugen, dass saubere Generäle in der Ukraine kämpften - «und nicht einfache russische Kerle, darunter auch aus Haftanstalten, die Siege in diesem Krieg errungen haben».
In Teilen der Bevölkerung macht sich längst Angst breit, dass die Freigelassenen nach dem Kriegsdienst neue Straftaten begehen. Frauen protestieren, dass Banditen, Vergewaltiger und Mörder in Freiheit kämen. «Sie werden jetzt noch zu Kriegsverbrechern», heisst es etwa bei der Feministischen Antikriegsbewegung. «Ihre Begnadigung ist eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und das Leben der Frauen und ihrer Kinder.» Durch die Kriegstraumata steige das Risiko der Gewalt, warnt die Bewegung.
Wagner-Heimkehrer tötet 85 Jahre alte Frau
Auch Prigoschin musste erleben, dass einer seiner wegen Mordes verurteilten Schützlinge nach der Rückkehr in seine Heimatregion erst ein Autofenster mit einer Axt einschlug und dann eine 85 Jahre alte Frau im Nachbarort tötete. Von seinen 14 Jahren Haft hatte der Mann gerade einmal zwei abgesessen, als ihn der Wagner-Chef voriges Jahr für den Krieg engagierte. Wagner trage die Verantwortung für seine Kämpfer, räumt Prigoschin ein. «Wir heilen sie, versorgen sie mit Prothesen, zahlen alles, was wir zahlen sollen.»
Die in dem von Putin eingesetzten Menschenrechtsrat arbeitende Eva Merkatschowa meint, dass Russland ein Rehabilitierungswesen brauche, weil bei den «oft so schon gestörten» Straftätern nun noch die Kriegstraumata hinzukämen. Ein Kriegsorden helfe ihnen nicht, im Leben anzukommen, Arbeit zu finden. In Russland fehle bisher ein System, um Straftäter auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten.
Auch Prigoschin sieht offenbar Handlungsbedarf im Umgang mit den traumatisierten Heimkehrern aus dem Krieg. Der Geschäftsmann will nun ein eigenes Grundstück in dem bei Reichen beliebten Moskauer Vorort Barwicha für den Bau eines psychologischen Rehabilitationszentrums für Kriegsteilnehmer, darunter ehemalige Strafgefangene, hergeben. Dazu forderte er den Gouverneur des Moskauer Gebiets, Andrej Worobjow, gerade in einem Brief samt Architekturzeichnungen auf, den Bau des Zentrums «Rubka» zu genehmigen. Widerspruch von Behörden duldet er nicht.