Indien Regierung richtet altes Kolonialgesetz gegen ihre Kritiker

AP

12.3.2020

Eben noch war Sharjeel Imam (M) ein unbekannter studentischer Aktivist, dann startete die indische Polizei die Grossfahndung nach ihm.
Eben noch war Sharjeel Imam (M) ein unbekannter studentischer Aktivist, dann startete die indische Polizei die Grossfahndung nach ihm.
Bild: Dinesh Joshi/AP/dpa (Archivbild)

Die indische Regierung schüchtert ihre Kritiker offenbar gezielt ein. Anhand eines alten Gesetzes zur Volksverhetzung geht sie gegen Aktivisten, Studierende und Journalisten vor. Regierungsnahe Medien schüren Vorverurteilungen.

Eben noch war Sharjeel Imam ein unbekannter studentischer Aktivist, dann startete die indische Polizei die Grossfahndung nach ihm. In fünf Bundesstaaten versuchten die Behörden ihn zu fassen, weil der 31-Jährige in einer Rede zu monatelangen Strassenblockaden im Nordosten des Landes aufgerufen hatte.

Sein vermeintliches Vergehen beruht auf einem Gesetz, das noch aus britischen Kolonialzeiten stammt. Die indische Regierung aber setzt es zunehmend ein, um Kritiker, Intellektuelle, Menschenrechtsaktivisten, Filmemacher, Studierende und Journalisten zu Volksverhetzern abzustempeln.

Allein zwischen 2016 und 2018 wurden nach offiziellen Angaben 332 Menschen auf Grundlage dieses Gesetzes festgenommen. Dass nur sieben von ihnen tatsächlich verurteilt wurden, deutet darauf hin, dass es der Polizei schwerfällt, Beweise gegen die Beschuldigten zu sammeln. Das schützt diese aber nicht vor der Verurteilung durch regierungsfreundliche Medien.

«Das Gesetz wird dafür genutzt, andersdenkende Bürger als illoyal gegenüber ihrem Land zu brandmarken, und zwar mit medialer Berichterstattung anstelle von Gerichtsprozessen», sagt die Wissenschaftlerin Ayesha Pattnaik, die Indiens Gesetz zur Volksverhetzung untersucht hat. Die Briten hatten es dazu genutzt, um gegen die indischen Freiheitskämpfer vorzugehen, bevor das Land 1947 unabhängig wurde.

Der Aktivist Imam protestierte mit seiner Rede gegen ein neues Gesetz, das die Einbürgerung von Angehörigen einiger religiöser Minderheiten beschleunigen sollte, die unerlaubt aus Nachbarstaaten ins Land gekommen sind - mit Ausnahme von Muslimen. Daraufhin waren im Dezember im nordöstlichen Bundesstaat Assam und anderswo in Indien heftige Proteste ausgebrochen.

Imam hatte seine Zuhörer aufgefordert, Strassen und Schienen mit Schutt unpassierbar zu machen, um Assam vom Rest des Landes abzukoppeln. Führende Mitglieder der Regierungspartei Bharatiya Janata hatten Imam daraufhin einen Aufwiegler genannt. Ein Abgeordneter der Partei sagte sogar, Menschen wie er sollten «öffentlich erschossen» werden.

Indiens berüchtigt langsames Strafrechtssystem sorgt derweil dafür, dass die Beschuldigten in ihrem Leben und ihrer Redefreiheit ernsthaft eingeschränkt sind, solange die Fälle nicht abgeschlossen sind. Sie bekommen weder einen Pass, noch können sie Jobs in der Regierung annehmen und müssen, wann immer gefordert, vor Gericht erscheinen.



«Die wahre Strafe ist der Gerichtsprozess, in dem die Menschen tage- oder monatelang versuchen müssen, ihre Unschuld zu beweisen. Das reicht, um sie zu schikanieren oder zum Schweigen zu bringen», sagt der indische Rechtsanwalt Chitranshul Sinha, der ein Buch über die Geschichte des Gesetzes zur Volksverhetzung geschrieben hat. Die Regierung zählt die Fälle, in denen Menschen Volksverhetzung vorgeworfen wird, erst seit 2015. Doch Forscher und andere Experten sagen, dass es einen Zuwachs unter Premierminister Narendra Modi gegeben habe.

Dessen Justizminister Ravi Shankar Prasad sagte kürzlich Reportern, die ihn nach der Meinungsfreiheit im Land fragten, das Gesetz zur Volksverhetzung gegen Andersdenkende zu nutzen, wäre «Machtmissbrauch». Die Menschen hätten das Recht, Modi, dessen Partei und die Regierung zu kritisieren, doch brauche man das Gesetz, da es «Kräfte im Land» gebe, die «Indien schwächen» wollten. Regierungssprecher Kuldeep Dhatwalia wies Vorwürfe zurück, das Gesetz werde gezielt gegen Kritiker gerichtet.

Wie in anderen einst von den Briten regierten Ländern bietet das indische Gesetz zur Volksverhetzung einen rechtlichen Rahmen dafür, Bürger als Bedrohung für den Staat einzustufen. Während es jedoch in Grossbritannien im Jahr 2010 aufgehoben wurde, nutzen es indische Regierungen schon länger gegen unliebsame Kritiker. So galten Menschen als Volksverhetzer, wenn sie ein regierungskritisches Facebook-Posting veröffentlichten, einen Yoga-Guru kritisierten oder ein gegnerisches Cricket-Team anfeuerten, politische Karikaturen zeichneten oder im Kino nicht während der Nationalhymne, die oft vor den Filmen gespielt wird, aufstanden. Unter Modi allerdings, sagen Kritiker, werde Indien immer intoleranter.

Im vergangenen Jahr fielen 49 Menschen unter den Verdacht der Volksverhetzung, weil sie einen offenen Brief an den Premierminister schrieben, in dem sie ihre Sorge über Hasskriminalität gegenüber Minderheiten ausdrückten. Zu den Unterzeichnern gehörten auch bekannte Filmstars. Nach einem öffentlichen Aufschrei wurden die Anklagen fallen gelassen.

Kürzlich wurden ein Grundschullehrer und die Mutter eines Schülers wegen einer Schulaufführung festgenommen, in der Kritik am Bürgerrechtsgesetz laut wurde. Die Schüler im Alter von neun und zehn Jahren wurden über mehrere Tage hinweg von der Polizei verhört. Auch diese Vorwürfe wurden später fallen gelassen. Führende Mitglieder von Modis Partei werfen Kritikern regelmässig vor, «antinational» zu sein. Forderungen aus Opposition und Zivilgesellschaft, das Gesetz abzuschaffen, das als Höchststrafe lebenslang Gefängnis vorsieht, hat die Regierung zurückgewiesen.

Auch die politische Aktivistin Shehla Rashid wurde im vergangenen Sommer festgenommen, nachdem sie der indischen Armee bei Twitter vorgeworfen hatte, in Kaschmir Menschen gefoltert zu haben. Indien hatte die Halbautonomie der Region rückgängig gemacht und die zumeist muslimische Bevölkerung unter Hausarrest gestellt. Die Armee wies die Vorwürfe zurück.

Shehla Rashid hält dagegen, dass auch unabhängige Medien, darunter die Nachrichtenagentur AP, über Fälle von Misshandlungen berichtet hätten. Seit Monaten geht sie nun gegen ihre Anklage vor, was «erhebliche finanzielle Auswirkungen» auf sie und «abschreckende Effekte» auf ihre Meinungsfreiheit gehabt habe. «Der Preis dafür, in diesem Land den Mund aufzumachen, ist ziemlich hoch», sagt Shehla Rashid. «Sobald du etwas gegen die Regierung sagst, bist du kriminell.»


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