Lagebild Ukraine Kiews Gegenoffensive «bloss ein weiterer Schritt in diesem Krieg»

Philipp Dahm

30.5.2023

Ukrainerin räumt für ihre Kuh Minen von der Weide

Ukrainerin räumt für ihre Kuh Minen von der Weide

Die 67-Jährige Rentnerin Hanna Plishchynska sucht die Felder hinter den Ruinen ihres Dorfes mit einem Metalldetektor ab, damit sie ihre Kuh auf die Weide bringen und Gemüse anbauen kann.

27.05.2023

An der Front in der Ukraine passiert derzeit kaum etwas. Doch dahinter schlägt das ukrainische Militär mit Langstrecken-Waffen zu, nimmt gegnerische Artillerie ins Visier – und bereitet den grossen Angriff vor.

Philipp Dahm

30.5.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die ukrainische Gegenoffensive ist terminiert, sagt Präsident Wolodymyr Selenskyj.
  • Eine ukrainische Journalistin kritisiert den Hype um den Grossangriff und warnt vor zu hohen Erwartungen.
  • Anti-Artillerie-Kampf und Präzisionsschläge: Die Hinweise auf die Offensive verdichten sich.
  • An der Front gibt es derzeit kaum Bewegung: Die Ukraine fiert kleine Erfolge südlich von Bachmut.
  • Die Gruppe Wagner zieht offenbar tatsächlich aus Bachmut ab.

Was die ukrainische Gegenoffensive angeht, ist nur klar, dass nichts klar ist. Wenn man Mychajlo Podoljak, dem Berater Wolodymyr Selenskyjs, glaubt, ist diese bereits im Gange.

Der Oberkommandierende der Streitkräfte deutet an, dass der Angriff bevorsteht. «Es ist Zeit, zurückzuholen, was uns gehört», schreibt Walerij Saluschnyj auf Telegram und zeigt einen Propaganda-Clip seiner Armee, in dem Panzer vom Typ Leopard 2 und Artilleriesysteme wie die M777 oder Himars zu sehen sind.

Präsident Selenskyj selbst bekundet in seiner jüngsten täglichen Video-Ansprache, der Termin für die Gegenoffensive sei nun beschlossen. Das lange Hin und Her ist Kalkül, um die wahren Umstände der Attacke zu verschleiern, doch es birgt auch Gefahren, warnt die ukrainische Journalistin Switlana Morenenets. 

«Das Problem ist, dass die Ukraine-Allianz jetzt sehr grosse Erwartungen hat», sagt sie dem Times-Radio. «Die Leute fragen: ‹[Die Gegenoffensive] war für den Frühling angekündigt. Wo bleibt der grosse Vorstoss?› Jetzt versuchen Selenskyj und sein Team, die Erwartungen zu dämpfen, weil diese hohen Erwartungen nun zu einer Belastung werden.»

Ukrainische Artillerie im Dauereinsatz

Würden jene nicht erfüllt, könnte die Unterstützung Kiews im Ausland nachlassen, befürchten die Ukrainer*innen, so Morenenets. «Wenn irgendwas schiefgeht, macht der Westen vielleicht Druck auf Kiew, damit mit Russland verhandelt wird.» Es sei daher richtig, den Hype um die Gegenoffensive zu bremsen. «Sie ist bloss ein weiterer Schritt in diesem Krieg.»

Die Hinweise auf einen Grossangriff verdichten sich jedenfalls. In der Vorwoche einer Offensive hat Kiew stets Jagd auf die Artillerie des Gegners gemacht. So einen Ausschlag gab es auch in der vorigen Woche: Dass deshalb nun auch in dieser Woche etwas passiert, muss sich freilich erst noch zeigen.

Neben dieser Jagd auf Artillerie- und Flugabwehr-Systeme will eine grosse Attacke auch durch Präzisionsschläge auf wichtige militärische Einrichtungen vorbereitet sein: Kasernen, Munitionsdepots, Waffen-Lager und Kommandoposten sind dabei die Ziele.

Angriffe auf Berdjansk, Mariupol – und russisches Gebiet

So haben die ukrainischen Streitkräfte mehrfach Berdjansk ins Visier genommen. Die Stadt am Asowschen Meer ist ein wichtiger Umschlaghafen für das russische Militär. Nachdem am Donnerstag, dem 25. Mai, bereits Landungsschiffe und ein Munitionsdepot angegriffen werden, bricht zwei Tage später erneut ein Feuer aus.

Im russisch besetzten Mariupol und Umgebung schlagen am Pfingstsonntag ebenfalls Raketen ein. Auch heute soll es wieder Explosionen beim Hüttenwerk Asowstahl gegeben haben, wo das russische Militär angeblich Mensch und Material angesammelt hat. Es ist denkbar, dass die Storm Shadow dabei im Einsatz war, die nach ukrainischen Angaben bisher eine Trefferquote von 100 Prozent haben soll.

Einschläge werden aber auch aus dem russischen Heimatland gemeldet: Zum einen am 26. Mai aus Krasnodar, das östlich der Krim liegt. Zum anderen soll am selben Tag auch ein Gazprom-Gelände in Belgorod getroffen worden sein. Angeblich sind Sabotagetrupps in dem russischen Oblast unterwegs und stiften Chaos.

Kaum Bewegung an der Front

Was läuft derzeit eigentlich an der Frontlinie ab? Die Antwort: nicht viel. Die ukrainische Armee versucht nach wie vor, das Dorf Klischschtijwka südlich von Bachmut einzunehmen. Laut Reporting from Ukraine haben die Russen dort eine starke Verteidigungsstellung aufgebaut.

Lagebild Bachmut. In Gelb: die russische Verteidigungsstellung mit den beiden Wäldern an den Flanken.
Lagebild Bachmut. In Gelb: die russische Verteidigungsstellung mit den beiden Wäldern an den Flanken.
Screenshot: YouTube/Reporting from Ukraine

Sie liegt demnach erhöht und besteht aus mehreren Schützengräben, die von zwei Wäldern flankiert werden. Kiews Kräfte konnten im Südwesten des Dorfes jedoch einen Kanal überqueren (im Bild oben hellblau) und versuchen, den Gegner im Rücken anzugreifen.

Wenn es in diesem Frontabschnitt Bewegung gibt, dann vor allem unter russischen Soldaten: Die Söldner der Gruppe Wagner werden durch Kämpfer der regulären Armee ausgetauscht, bestätigt nun auch das ukrainische Militär. Laut Jewgeni Prigoschin sollen seine Männer bis zum 1. Juni abgezogen sein.

Waffen-Update

Rund 400 ukrainische Soldaten haben in Deutschland mit dem Training auf dem amerikanischen M1 Abrams begonnen. Diese Mannschaften und ihre Panzer werden zwar frühestens Ende des Jahres zur Verfügung stehen, doch diese Aussicht dürfte der Militärführung in Kiew Hoffnung machen.

Optimistisch gibt sich auch Joe Biden auf die Frage, ob die USA der Ukraine ATACMS-Raketen liefern werden. Darüber werde noch verhandelt, sagt der US-Präsident mit Blick auf die Munition für die Himars-Raketenwerfer, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 300 Kilometer treffen kann.

Gute Nachrichten für Kiew kommen derweil aus Kopenhagen: Dänemark, das mit gut 5,8 Millionen Einwohnern deutlich kleiner als die Schweiz ist, will Wolodymr Selenksyj mit zusätzlichen Hilfen in Höhe von 2,6 Milliarden Dollar helfen, die zu den bereits beschlossenen 1,2 Milliarden Dollar hinzukommen.