Schicksal eines Heimkinds In der Ukraine verschleppt, bei Putin-Freund wieder aufgetaucht

gbi

24.11.2023

Die zehnmonatige Margarita wurde aus einem Kinderheim in Cherson nach Russland verschleppt.
Die zehnmonatige Margarita wurde aus einem Kinderheim in Cherson nach Russland verschleppt.
Screenshot BBC

Russland soll Zehntausende Kinder aus der Ukraine verschleppt haben. Eines davon ist die zehnmonatige Margarita aus Cherson: Sie wurde entführt und von einem Gefährten von Wladimir Putin adoptiert.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Was wird aus all den Kindern, die aus der Ukraine nach Russland verschleppt werden? Eine Menschenrechtlerin und ein Rechercheteam der BBC haben sich auf Spurensuche begeben.
  • Im Fokus steht Margarita, ein Heimkind aus Cherson. Das Mädchen wurde 2022 im Alter von zehn Monaten entführt.
  • Margarita tauchte in Moskau wieder auf: Sie wurde vom Politiker Sergej Mironow, einem Vertrauten von Präsident Wladimir Putin, adoptiert. Und heisst heute Marina. 
  • Die Deportation von Kindern stellt ein Kriegsverbrechen dar. Aus diesem Grund wurde auch ein internationaler Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen. 

Margarita ist zehn Monate alt, das jüngste Kind im Kinderheim der Region Cherson. Ihre Mutter gab sie kurz nach der Geburt weg, ihr Vater ist unbekannt. Im August 2022 wird Margarita ins Kinderspital der südukrainischen Stadt gebracht und wegen einer Bronchitis behandelt.

Als eine mysteriöse Frau in einem lila Outfit in der Klinik auftaucht, wird Margaritas Leben eine drastische Wende nehmen.

Margarita heisst heute Marina. Sie lebt nicht mehr in der Ukraine, sondern in Russland – und ist von einem Getreuen von Kreml-Chef Wladimir Putin adoptiert worden.

Kinderverschleppungen sind Grund für Putins Haftbefehl

So wie dem Mädchen aus Cherson erging es Tausenden ukrainischen Kindern. Die Regierung in Kiew sagt, rund 20'000 Kinder seien von den Russen seit Beginn des Krieges verschleppt worden. Zumeist in russisch besetzte Gebiete der Ukraine, wo sich die weitere Spur verliert.

Der Internationale Strafgerichtshof teilt diese Anschuldigungen und betrachtet die Deportation der Kinder als Kriegsverbrechen. Sie sind auch der Grund, weshalb Den Haag im März internationale Haftbefehle gegen Putin und seine Kinderrechts-Verantwortliche Maria Lwowa-Belowa erlassen hat.

Ein Rechercheteam der britischen BBC ist gemeinsam mit der ukrainischen Menschenrechtlerin Victoria Novikova in einer aufwendigen Recherche dem Schicksal von 48 Kindern nachgegangen, die aus dem Kinderheim in Cherson entnommen worden waren. Den Fall von Margarita rollen sie in einem Bericht exemplarisch auf.

Nataliya Lyutikova war im Sommer 2022 Ärztin auf der Kinderstation und erinnert sich gut an den Besuch einer russischen Frau in lila. Cherson war damals unter russischer Besatzung, und die Frau habe sich als Kinder-Beauftragte aus Moskau vorgestellt, erzählt die Ärztin der BBC. Die Besucherin habe sich auf der Station umgeschaut und wieder verschwunden.

Am nächsten Morgen sei das Klinikpersonal angewiesen worden, Margarita zurück ins Heim zu bringen. Dort tauchte am nächsten Morgen eine Gruppe russischer Männer auf – manche trugen Hosen mit militärischer Tarnfarbe, einer einen Aktenkoffer – und holte das Mädchen ab. «Es war wie in einem Film», sagt eine Pflegerin aus dem Heim. Doch man tat, wie befohlen: «Wir hatten Angst, alle hatten Angst.»

Einige Wochen später seien auch die restlichen Kinder abgeholt – es hiess, die Kinder würden auf die Krim gebracht. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Die ukrainische Halbinsel ist seit 2014 von Russland besetzt.

Mit dem Nachtzug nach Moskau

Den Verbleib von Margarita in einem riesigen Land wie Russland zu klären, war nicht einfach. Doch die Menschenrechtlerin Victoria Novikova hat ihre Kontakte und Methoden – und hangelte sich mit Unterstützung der BBC-Redaktor*innen von einem Hinweis zum nächsten.

So bekamen sie ein Dokument aus einem Spital in Moskau in die Finger, das eine Untersuchung eines Mädchens im Alter von Margarita beschrieb. Darauf der Name einer Frau, die sich dank Social Media und Befragungen in Cherson identifizieren liess: Inna Varlamova, die Frau im lila Outfit.

Die Recherche zeigte, dass Varlamova im russischen Parlament arbeitet. Und dass sie zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich mit dem Zug in die besetzte ukrainischen Gebiete gereist und danach mit dem Nachtzug wieder nach Moskau zurückgekehrt war. 

Die kleine Margarita habe aber offenbar keine spezielle Untersuchung gebraucht, gibt die Kinderärztin Lyutikova zu bedenken. «Warum wurde sie also bis ins weit entfernte Moskau gebracht?»

Da zeigte sich: Inna Varlamova hat vor Kurzem Sergej Mironow geheiratet. Er ist Anführer der Kleinpartei Gerechtes Russland, die laut BBC zwar zur Opposition zählt, aber vom Kreml wohlwollend geduldet wird. Mironow unterstützt offen Präsident Putin und wurde von der EU und der Schweiz mit Sanktionen belegt.

Sergej Mironow gilt als Vertrauter von Wladimir Putin – und steht auf der Sanktionsliste der Schweiz.
Sergej Mironow gilt als Vertrauter von Wladimir Putin – und steht auf der Sanktionsliste der Schweiz.
Bild. Keystone

Dem Paar wurde im Dezember 2022 eine Geburtsurkunde für ein 14-monatiges Mädchen namens «Marina» ausgestellt. Dieses Dokument erhielt die BBC über anonyme Quellen zugespielt. Seltsam nur: Angaben dazu, wo das Kind zur Welt kam, fehlen.

Das Geburtsdatum wirkte aber bekannt: 31. Oktober 2021, der gleiche Tag, an dem auch Margarita zur Welt kam. «Bingo», sagt die ukrainische Menschenrechtsexpertin dazu nur.

Die beiden Adoptiveltern wollten gegenüber der BBC keine Stellung beziehen.

Die Zeit läuft davon

Was mit den anderen 47 Kindern aus dem Heim in Cherson geschehen ist, ist weitgehend unbekannt. 17 von ihnen seien auf der Krim, sagen die russischen Behörden. Alle von ihnen hätten Verwandte in der Ukraine, sagt Victora Novikova.

Die Menschenrechtsaktivistin fürchtet, dass sie die restlichen Kinder nicht mehr aufspüren werden kann. Die Zeit arbeite gegen sie.

Das Deportieren von Zivilpersonen aus einem Kriegsgebiet ist gemäss Genfer Konvention illegal, sofern es dafür keine zwingenden Sicherheitsgründe gebe. Doch auch dann dürfe dies nur vorübergehend gemacht werden.

Russland bestreitet die von der Ukraine genannte Zahl von fast 20'000 verschleppten Kindern. Würden Kinder an einen anderen Ort gebracht, geschehe dies zu ihrem eigenen Wohl. Und: Wenn ukrainische Eltern auf dem ordentlichen Verfahrensweg ihren Fall vorlegen würden, würden die Familien wieder vereint.

Der BBC ist nur ein Kind aus dem Heim in Cherson bekannt, das wieder in die Ukraine gebracht worden sei.

Internationaler Haftbefehl gegen Putin

Internationaler Haftbefehl gegen Putin

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wirft dem russischen Präsidenten Kriegsverbrechen vor, wegen der Deportation ukrainischer Kinder in die russische Föderation. Russland nannte die Entscheidung des Strafgerichtshofs «bedeutungslos».

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