Die Ortschaft Maniche in Haiti wurde bei dem Erdbeben vom 14. August fast vollständig zerstört. Von der internationalen Hilfe profitieren offenbar nicht alle Bewohner gleichermassen.
AP/toko
29.08.2021, 00:00
29.08.2021, 00:27
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Wieder und wieder sticht Michael Jules mit einer Eisenstange in die Trümmer. Der 21-jährige Haitianer steht am Rand eines Schutthaufens vor dem eingestürzten Haus seiner Grossmutter. Zu seinen Füssen kauert ein jüngerer Cousin, der die Betonbrocken mit einer Kelle wegschiebt. Es ist der dritte Tag, an dem Jules in der Kleinstadt Maniche wie ein Archäologe Schicht um Schicht die Steine abträgt. Freigelegt hat er bislang mehr oder weniger den Umriss seines Zimmers. Am Dienstagmorgen entdeckt er eine Ecke seiner Matratze.
Während Jules sich mit Werkzeugen und manchmal mit blossen Händen abmüht, räumen nur wenige Häuser weiter Schwerlastbagger Grundstücke frei, entsorgen ganze Häuser auf Kipplaster oder schichten eingestürzte Gebäude zu ordentlichen Stapeln auf. Für manche Opfer des Erdbebens vom 14. August haben die notwendigen Vorarbeiten für den Wiederaufbau begonnen.
Joseph Gervain, ein weiterer Cousin von Jules, beobachtet die Szene von der Strasse aus. Er wohnte in einem Haus dahinter, das ebenfalls beschädigt wurde. Er fragt sich, nach welchen Kriterien die Fahrer der Bagger entscheiden, wo sie aufräumen und wo nicht. «Ich sehe Leute, die die Trümmer wegräumen, aber ich kenne die Bedingungen nicht», sagt Gervain. «Vielleicht kostet es etwas. Ich sehe, dass sie Häuser auslassen. Jemand gibt ihnen Anweisungen, an welchen Häusern sie räumen sollen.»
Auf den Baggern stehen die Logos von Nichtregierungsorganisationen, über die Einsätze entscheidet aber offenbar der Bürgermeister von Maniche. Jean Favard sieht zu, wie eine der grossen gelben Maschinen den Schutt von seinem Ferienhaus wegschiebt, das nicht weit entfernt liegt vom Haus von Jules' Grossmutter. In Favards Haus lebte niemand, und er will es nach eigenen Worten sobald wie möglich wieder aufbauen.
Gervain dagegen hat keine Ahnung, was seine Familie künftig mit dem Grundstück anfangen will. Bis zum 14. August stand dort ein zweistöckiges Haus mit acht Schlafzimmern, in dem zwölf Menschen lebten. Übrig blieb ein einstöckiger Trümmerhaufen.
Jules gräbt weiter. Er sucht nach seiner Kleidung – am Körper trägt er nur geliehene Boxershorts mit Spider-Man-Motiv – und seinem Reisepass. «Bis jetzt habe ich noch nichts gefunden», sagt er.
Sein abgelegener Heimatort Maniche liegt in einem breiten, grünen Tal hinter einem Gebirgspass, die nächste asphaltierte Strasse ist eine Stunde Fahrt entfernt. Die Kleinstadt verlor ersten Schätzungen zufolge 80 bis 90 Prozent ihrer Häuser. Alle Strassen sind von Trümmerbergen wie dem am Haus von Jules' Familie gesäumt. Selbst die Häuser, die noch stehen, müssen grösstenteils abgerissen werden.
Relativ unbeeinträchtigt scheint das Treiben auf dem Markt von Maniche am Flussufer. Selbst an einem Dienstag – Markttag ist samstags – überqueren Bauern aus dem Umland mit Säcken voll Bohnen und Erdnüssen auf dem Kopf den Fluss. Schwerbeladene Maultiere mit Kochbananen auf dem Rücken patschen durch das Wasser.
Zum Glück habe sich das Beben an einem Samstag ereignet, als die meisten Menschen sich im Freien auf dem Markt aufhielten, sagt Gervain. Auf Jules traf das nicht zu. Er musste aus dem Haus fliehen, als der Erdstoss der Stärke 7,2 den Karibikstaat erschütterte. Nach seinem Reisepass sucht der Fussballprofi jetzt so verzweifelt, weil er das Dokument für künftige Auslandsspiele seines Vereins America des Cayes braucht. Wegen der Corona-Pandemie ist die laufende Saison unterbrochen.
Auch ohne Trikot und inmitten eines Trümmerbergs wird der Rechtsverteidiger sofort von einem Fan erkannt. «Sie sind von hier?», fragt der Fahrer eines Motorradtaxis aus Les Cayes ungläubig. «Ich wusste nicht, dass sie aus Maniche kommen.»
In der 20 000-Einwohner-Stadt lief die Hilfe nur langsam an. Am dringendsten seien die Bewohner auf Unterkünfte angewiesen, sagt der Schreiner Philemon Charles. Seine Familie schläft seit mehr als einer Woche vor ihrem beschädigten Haus im Freien.
Am Dienstag verteilte die US-Hilfsorganisation Samaritan's Purse grosse blaue Planen für Notunterkünfte und kleine Solarleuchten, mit denen die Menschen auch ihre Handys laden können. Die Gruppe Community Organized Relief Effort von Schauspielstar Sean Penn lieferte das schwere Gerät, und Konvois verschiedener UN-Organisationen trafen in Maniche ein.
Jules arbeitet weiter, bis ihn die gleissende Mittagshitze zu einer Pause zwingt. Bis dahin ist es ihm gelungen, seine Doppelmatratze aus dem Schutt zu zerren. In den frei gewordenen Hohlraum rieseln sofort wieder die nächsten Betonbrocken.