ArmenienKonflikt um Berg-Karabach: Armenien bekommt mehr Zeit für Abzug
SDA
15.11.2020 - 17:54
Nach dem Ende aller Kampfhandlungen in Berg-Karabach im Südkaukasus bekommt Armenien mehr Zeit für den Abzug von Truppen. Das teilte ein Berater des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev am Sonntag in der Hauptstadt Baku der aserbaidschanischen Staatsagentur Azertac zufolge mit. Zudem sicherte das Staatsoberhaupt den Schutz christlicher Kirchen und Klöster in den Gebieten der Konfliktregion zu, die nun vom muslimisch geprägten Aserbaidschan kontrolliert werden. Beide Seiten tauschten am Wochenende mehrere Leichen gefallener Soldaten aus.
Eigentlich hätte Armenien am Sonntag den Kreis Kelbecer im Nordwesten von Karabach als erste von weiteren Regionen an Aserbaidschan übertragen sollen, wie es beide Seiten in einem Abkommen unter Vermittlung Russlands verabredet hatten. Die Frist sei nun um zehn Tage auf den 25. November verlängert worden, sagte Aliyevs Berater. Armenien habe die Verzögerung damit begründet, dass für den Abzug nur eine einzige Strasse genutzt werden könne. Dort gebe es Staus.
Zuvor gab es Berichte, dass Karabach-Armenier ihre Häuser vor dem Anrücken aserbaidschanischer Truppen verlassen hätten. Einige zündeten ihre Gebäude an. «Wir wollen nicht, dass Aserbaidschaner in unseren Häusern leben», sagte eine Bewohnerin des Dorfes Charektar. Auf Fotos war zu sehen, wie Menschen mit Hab und Gut ihre Heimat verliessen. Selbst Tankstellen wurden demontiert.
Das Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan sieht die Rückgabe grösserer Gebiete an Aserbaidschan vor, die bislang unter Kontrolle Armeniens gestanden haben. Die Einigung wurde als Niederlage Armeniens und als Sieg Aserbaidschans gewertet.
Während in einigen Gebieten von Berg-Karabach Wut darüber herrscht, flossen anderswo Freudentränen. Mehr als 200 Bewohner der Hauptstadt Stepanakert kehrten zurück, wie das Verteidigungsministerium von Russland mitteilte. Sie waren vor den wochenlangen Kämpfen geflohen. Sie hoffen, nun nicht länger in Angst leben zu müssen.
Dafür sollen rund 2000 russische Friedenssoldaten sorgen und die Waffenruhe in Berg-Karabach überwachen. Die meisten von ihnen haben ihre Stellungen bereits bezogen. Die Verlegung dauerte auch am Wochenende an. Kommandeur Rustam Muradow sagte am Samstag der Agentur Interfax zufolge, es gebe keine Kämpfe mehr. «Wir hören heute keine Schüsse. Die Situation stabilisiert sich langsam.»
Das begrüsste Kremlchef Wladimir Putin bei Telefonaten mit Aliyev und dem armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan, wie der Kreml in Moskau mitteilte. Der russische Präsident habe im Gespräch mit Aliyev besonders auf den Schutz der Kirchen und Klöster hingewiesen. Das sicherte Aliyev nach Angaben seines Präsidialamts zu. In seinem Land würden die Rechte und Freiheiten aller Völker und Religionen «uneingeschränkt garantiert», hiess es. Bei den Karabach-Armeniern ist die Sorge vor Zerstörungen aber gross.
Die Übereinkunft sieht zudem die Übergabe gefallener Soldaten vor. Der Austausch werde fortgesetzt, teilte Armenien mit. Unklar war, wie viele Leichen am Samstag ausgetauscht worden waren. Aserbaidschan sprach lediglich von sechs von Armenien überstellten Soldaten.
Dem Gesundheitsministerium des Landes zufolge wurden bislang die Leichen von mehr als 2300 Getöteten forensisch untersucht. Einige seien noch nicht identifiziert worden, teilte das Ministerium in Eriwan mit. Die Karabach-Behörden gaben die Zahl der getöteten Soldaten am Sonntag mit 1434 an. Das aserbaidschanische Militär machte mit Blick auf die Zensur während des Kriegsrechts zunächst keine Angaben zu den Verlusten in den eigenen Reihen.
Aserbaidschan hatte in einem Krieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor rund 30 Jahren die Kontrolle über Berg-Karabach mit etwa 145 000 Bewohnern verloren. Seit 1994 galt eine brüchige Waffenruhe. In dem neuen Krieg hat sich Aserbaidschan weite Teile des Gebiets zurückgeholt. Das Land berief sich dabei auf das Völkerrecht und sah sich von seinem «Bruderstaat» Türkei unterstützt. Armenien wiederum setzt auf Russland als Schutzmacht.
Vor allem in Armenien ist der Unmut über die Vereinbarung gross. Paschinjan steht erheblich unter Druck. Die Opposition fordert seinen Rücktritt. Die Sicherheitsdienste berichteten von einem angeblichen Anschlag auf Paschinjan, der aber vereitelt worden sei. Wie der Nationale Sicherheitsdienst in Eriwan mitteilte, sollen eine nicht näher genannte Gruppe festgesetzt und ein Waffenlager ausgehoben worden sein. Neben dem Anschlag sei eine «Machtübernahme» geplant gewesen. Zuletzt wurden mehrere führende Oppositionspolitiker in Armenien festgenommen.
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