Krieg in GazaLenkt Netanjahu mit Antisemitismus-Vorwürfen von eigenen Misserfolgen ab?
Tia Goldenberg, AP
3.6.2024 - 00:00
Benjamin Netanjahu entgegnet Kritik am Krieg Israels gegen die Hamas mit Antisemitismus-Vorwürfen. Seine Gegner halten ihm vor, damit vom bisherigen Scheitern bei der Verwirklichung der Kriegsziele abzulenken.
DPA, Tia Goldenberg, AP
03.06.2024, 00:00
dpa
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Netanjahu nutzt Antisemitismus-Vorwürfe, um Kritik am israelischen Krieg gegen die Hamas abzuwehren.
Kritiker behaupten, Netanjahu lenke mit diesen Vorwürfen von seinem Scheitern bei den Kriegszielen ab.
Es gibt eine Debatte darüber, ob Netanjahu legitime Kritik unterdrückt und seine Antisemitismus-Vorwürfe sich abnutzen könnten.
Nachdem der oberste Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu, seinen Verteidigungsminister und Hamas-Anführer beantragt hatte, bezeichnete ihn der israelische Regierungschef als einen der «grossen Antisemiten der Neuzeit».
Als die Proteste gegen den Gaza-Krieg die Universitäten in den Vereinigten Staaten erschütterten, sagte Netanjahu, sie würden überschwemmt von einem «antisemitischen Mob». Das sind nur zwei der vielen Fälle, in denen Netanjahu während des Krieges Kritiker Israels oder seiner Politik des Antisemitismus beschuldigte und in feuriger Rhetorik Vergleiche zu den schlimmsten Verbrechen gegen das jüdische Volk zog.
Kontroverse um Antisemitismus-Definition
Seine Kritiker betonen, dass er das Etikett überstrapaziere, um seine politische Agenda voranzutreiben und auch legitime Kritik abzuwürgen. Er riskiere damit, die Bedeutung des Begriffs zu verwässern in einer Zeit, in der Antisemitismus weltweit zunimmt.
«Nicht jede Kritik an Israel ist antisemitisch», sagt Tom Segev, ein israelischer Historiker. «In dem Moment, in dem man sagt, dass es sich um antisemitischen Hass handle, spricht man der Kritik jegliche Legitimität ab und versucht, die Debatte zu unterdrücken.»
Tatsächlich hat die Zahl antisemitischer Vorfälle nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober nach Angaben von Forschern stark zugenommen. Und viele Juden in Nordamerika und Europa erklären, dass sie sich unsicher fühlen und verweisen auf Drohungen gegen jüdische Schulen und Synagogen und die propalästinensischen Campus-Demonstrationen in den USA, obwohl die Organisatoren bestreiten, dass die Proteste von Antisemitismus getrieben seien.
Der Krieg hat die langjährige Debatte über die Definition von Antisemitismus neu entfacht und die Frage aufgeworfen, ob jegliche Kritik an Israel – wegen der Tötung Tausender palästinensischer Kinder beim israelischen Militäreinsatz bis hin zur Frage nach dem Existenzrecht Israels – als anti-jüdische Hassrede gilt.
Kritik an Netanjahus Rhetorik
Netanjahu, Sohn eines Experten für mittelalterliche Judenverfolgung, zieht seit langem das Leid des jüdischen Volkes für seine politische Rhetorik heran. Und er ist sicher nicht der erste Regierungs- oder Staatschef, dem vorgeworfen wird, ein nationales Trauma zu nutzen, um seine politischen Ziele voranzutreiben.
Doch seine Antisemitismus-Vorwürfe kommen zu einem Zeitpunkt, an dem er wiederholt der Verantwortung dafür ausweicht, dass der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober nicht verhindert wurde. Extremisten hatten 1200 Menschen getötet und etwa 250 als Geiseln genommen, und viele im israelischen Verteidigungsapparat geben sich die Schuld daran.
Netanjahu wird im In- und Ausland für den Krieg kritisiert, in dem nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Hamas im Gazastreifen mehr als 36 000 Palästinenser ums Leben kamen. Die Kämpfe lösten eine humanitäre Katastrophe aus, und der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan, beschuldigte Netanjahu und dessen Verteidigungsminister, neben anderen Verbrechen auch Hunger als «Methode der Kriegsführung» einzusetzen.
Netanjahu vergleicht Uni-Proteste mit Nazi-Deutschland
Auf dem Gipfel der Campus-Proteste veröffentlichte Netanjahu ein Video, in dem er einen «gewissenlosen» Antisemitismus verurteilte und die überall entstehenden Lager auf dem Gelände vieler Universitäten mit dem Nazi-Deutschland der 1930er Jahre verglich. «Was auf Amerikas Hochschulgeländen passiert, ist entsetzlich», sagte er.
Als Reaktion auf die Beantragung der Haftbefehle durch Khan sagte er, der IStGH-Ankläger giesse «Benzin in die Feuer des Antisemitismus, die in der ganzen Welt wüten», und verglich ihn mit deutschen Richtern, die Nazi-Gesetzen gegen Juden zustimmten.
Netanjahu verglich Vorwürfe, Israels Krieg verursache eine Hungersnot in Gaza oder sei ein Völkermord, mit Legenden von Ritualmorden – unbegründeten, jahrhundertealten Anschuldigungen, wonach Juden christliche Kinder geopfert und ihr Blut zur Herstellung von ungesäuertem Brot zu Pessach verwendet hätten.
«Diese falschen Anschuldigungen werden nicht wegen der Dinge erhoben, die wir tun, sondern wegen der einfachen Tatsache, dass wir existieren», sagte er in einer Feier anlässlich des israelischen Holocaust-Gedenktages Anfang Mai. Auch zuvor hatte er wiederholt Anspielungen auf den Holocaust gemacht, als er versuchte, die Welt angesichts des iranischen Atomprogramms aufzurütteln.
Historiker Segev räumt ein, dass «gewalttätiger Hass» gegen Israel zunehme und in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen wahrscheinlich mit einem Gefühl der Unsicherheit einhergehe. Gleichzeitig betont er, Netanjahu nutze schon lange jüdische Krisen zu seinem politischen Vorteil, einschliesslich der Beschwörung des tiefsten Traumas des jüdischen Volkes, des Holocausts.
Auf dem Gipfel der Campus-Proteste veröffentlichte Netanjahu ein Video, in dem er einen «gewissenlosen» Antisemitismus verurteilte und die überall entstehenden Lager auf dem Gelände vieler Universitäten mit dem Nazi-Deutschland der 1930er Jahre verglich. «Was auf Amerikas Hochschulgeländen passiert, ist entsetzlich», sagte er.
Als Reaktion auf die Beantragung der Haftbefehle durch Khan sagte er, der IStGH-Ankläger giesse «Benzin in die Feuer des Antisemitismus, die in der ganzen Welt wüten», und verglich ihn mit deutschen Richtern, die Nazi-Gesetzen gegen Juden zustimmten.
Holocaust-Vergleiche der israelischen Führung
Netanjahu verglich Vorwürfe, Israels Krieg verursache eine Hungersnot in Gaza oder sei ein Völkermord, mit Legenden von Ritualmorden – unbegründeten, jahrhundertealten Anschuldigungen, wonach Juden christliche Kinder geopfert und ihr Blut zur Herstellung von ungesäuertem Brot zu Pessach verwendet hätten.
«Diese falschen Anschuldigungen werden nicht wegen der Dinge erhoben, die wir tun, sondern wegen der einfachen Tatsache, dass wir existieren», sagte er in einer Feier anlässlich des israelischen Holocaust-Gedenktages Anfang Mai. Auch zuvor hatte er wiederholt Anspielungen auf den Holocaust gemacht, als er versuchte, die Welt angesichts des iranischen Atomprogramms aufzurütteln.
Auch in Bezug auf den 7. Oktober zogen die israelische Führung und die Medien des Landes solche Vergleiche. Sie bezeichneten die Hamas-Angreifer als Nazis, verglichen ihren Überfall mit der Gewalt, die den osteuropäischen Juden angetan wurde, und nannten die Bilder der verbrannten Leichen der jüdischen Opfer Shoah – das hebräische Wort für Holocaust.
Israelis: Krieg in Gaza ist gerechter Akt der Selbstverteidigung
Die Israelis wurden aufgeschreckt durch den weltweiten Anstieg des Antisemitismus, und viele machen teilweise die Kritik an Israel dafür verantwortlich. Sie sehen Heuchelei darin, dass die Welt den Fokus auf den Krieg Israels gegen die Hamas lenkt, während anderen Konflikten weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Nach Einschätzung von Mosche Klughaft, einem ehemaligen Berater Netanjahus, ist der israelische Regierungschef tatsächlich besorgt über den zunehmenden Antisemitismus: «Es ist seine Pflicht, den Antisemitismus zu verurteilen, als Ministerpräsident Israels und als Oberhaupt eines Landes, das sich für das Weltjudentum verantwortlich fühlt.»
Viele Israelis betrachten den Krieg im Gazastreifen als einen gerechten Akt der Selbstverteidigung und reagieren befremdet auf die Kritik, die ihrer Meinung nach an die Hamas gerichtet werden sollte – sie beschuldigen die Gruppe, den Krieg begonnen zu haben, palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen und sich zu weigern, die Geiseln freizulassen.
Antisemitismus-Vorwürfe als Ablenkungsstrategie
Der Antrag auf Haftbefehle beim IStGH hat solche Gefühle wahrscheinlich noch verstärkt. Wenn sich Netanjahu auf den Vorwurf des Antisemitismus stütze, dann tue er dies mit Blick auf die israelische Öffentlichkeit, so Reuven Hasan, Politikwissenschaftler an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Der israelische Regierungschef nutze die Campus-Proteste, um von seinem bisherigen Scheitern bei der Verwirklichung der beiden Kriegsziele – Zerstörung der Hamas und Befreiung der Geiseln – abzulenken. «Er wendet die Schuld von sich selbst ab, indem er jegliche Defizite nicht seiner Aussenpolitik oder seiner Politik in den Palästinensergebieten, sondern dem Antisemitismus zuschreibt», sagt Hasan. «Dieses Narrativ kommt ihm sehr zugute, denn es entlastet ihn von der Verantwortung.»
Schmuel Rosner von der Jerusalemer Denkfabrik Jewish People Policy Institute weist zurück, dass Netanjahu mit dem Antisemitismus-Vorwurf Kritik unterdrücke und betont, das Land müsse sehr viel Tadel einstecken.
Gleichzeitig räumt er ein, der ständige Antisemitismus-Vorwurf zur Erreichung politischer Ziele könnte sich allmählich abnutzen: «Ich wäre wählerischer als die israelische Regierung, wenn es darum geht, welche Leute und Institutionen sie als antisemitisch bezeichnet.»