Letzter Ausweg ImpfungWie Boris Johnson sein Land ins Corona-Chaos führte
Christoph Meyer, dpa
12.1.2021 - 11:25
Den Schaden, den die Corona-Pandemie in Grossbritannien bisher angerichtet hat, ist so gross wie kaum wo anders. Einige geben die Schuld dafür Premier Boris Johnson. Die Liste seiner gebrochenen Versprechen ist lang.
Mehr als 80'000 Tote – so viele wie sonst nirgends in Europa und eine wirtschaftliche Rezession, die ihresgleichen sucht. Das ist die bisherige Bilanz Grossbritanniens in der Corona-Pandemie. Zu allem Übel ist das Land nun auch noch von einer Virus-Mutation betroffen, die sich nach Ansicht von Experten erheblich schneller ausbreitet als die bisherige Variante.
Zuletzt wurden täglich bis zu 60 000 neue Infektionen gemeldet. Die Zahl der Einweisungen in Krankenhäuser ist höher als zum Höhepunkt der ersten Welle im Frühjahr. In London stehen die Kliniken vor dem Kollaps. Gleichzeitig sind die Menschen erschöpft vom Lockdown. Die Disziplin lässt nach.
Nicht wenige glauben, dass die schlechte Bilanz auf das Konto von Premierminister Boris Johnson geht. Der Politiker mit dem markanten blonden Haarschopf hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Ausgerechnet jetzt könnte er wegen eines möglichen Bruchs der Corona-Regeln in Erklärungsnot geraten.
Regelbrecher Johnson
Er wurde am Wochenende mehr als elf Kilometer von seiner Dienstwohnung in der Downing Street entfernt beim Fahrradfahren gesichtet. Dabei versucht die Regierung gerade verzweifelt, die Menschen zur Einhaltung der Regeln zu bewegen. Johnson hat zudem den Ruf, unangenehme Entscheidungen nur zögerlich zu treffen und nicht aus seinen Fehlern zu lernen. Sträflich lange hatte der Premier im Frühjahr mit dem Verhängen eines Lockdowns gewartet. Und auch im Herbst deutete er die Zeichen der Zeit nicht richtig.
Die einzige Hoffnung, dass es nicht noch schlimmer wird für das Land, wäre ein Erfolg bei der raschen Impfung grosser Teile der Bevölkerung. Johnson hat das Ziel ausgegeben, bis Mitte Februar 15 Millionen Menschen eine erste Dosis zu verabreichen. Die zweite Dosis soll erst nach bis zu drei Monaten folgen.
Die zu Hilfe gerufene Armee nutze dabei «Techniken der Gefechtsvorbereitung» betonte der stets um Anklänge an den Zweiten Weltkrieg und sein grosses Vorbild Winston Churchill bemühte Premier. «Ich glaube bis Ostern können wir uns sicherlich auf eine ganz, ganz andere Welt in diesem Land freuen», prophezeite er.
Ein leeres Versprechen jagt das nächste
Es ist nicht das erste Versprechen, mit dem der konservative Politiker seinen Landsleuten Hoffnungen auf einen Ausweg aus der Pandemie macht. Manchmal wirkt er dabei wie ein Spielsüchtiger, der jedes Mal, wenn er verliert, den Einsatz erhöhen muss, um die Verluste wieder wettzumachen.
Die Liste der gebrochenen Versprechen ist lang: «Wir können das Blatt in zwölf Wochen wenden», verkündete Johnson im März 2020. Doch wie verhängnisvoll er das Virus unterschätzt hatte, zeigte ich sich nicht nur daran, dass er selbst schwer erkrankte und auf der Intensivstation landete.
Zwei Monate später versprach Johnson, Grossbritannien werde innerhalb von Wochen ein «Weltklasse-System» für Tests und Kontaktnachverfolgung auf die Beine stellen. Doch daraus wurde trotz Milliardeninvestitionen bislang nichts. Ein Experte des University College London bezeichnete das Programm kürzlich als «Desaster und nationale Schande».
Im Juli kam die Ankündigung Johnsons, bis Weihnachten werde wieder Normalität einkehren. Einen weiteren Lockdown schloss er damals aus – inzwischen ist das Land bereits im dritten. Stets traf der Premier die Entscheidungen extrem kurzfristig. Kurz vor Ferienende nach Neujahr sagte Johnson, die Schulen seien sicher. Am nächsten Tag verkündete die Regierung, alle Schulen müssten geschlossen bleiben.
Gelingt Impfkampagne nicht, dreht sich der Wind
Im krassen Kontrast zu dem Hin und Her steht der Eifer der Regierung, sich für Errungenschaften zu feiern, an denen sie keinen Anteil hatte. Als Grossbritannien Anfang Dezember dem Impfstoff des deutschen Unternehmens Biontech und des US-Konzernes Pfizer als erstes Land der Welt eine Notfallzulassung erteilte, zelebrierte London das als nationalen Erfolg.
Erziehungsminister Gavin Williamson verstieg sich sogar zu der Behauptung, die Zulassung sei deswegen so schnell erfolgt, weil Grossbritannien «offensichtlich die beste Arzneimittelbehörde hat». Diese sei «viel besser» als die Frankreichs, Belgiens oder der USA. «Das überrascht mich auch überhaupt nicht, weil wir ein viel besseres Land sind als jedes einzelne von denen, nicht wahr?», sagte der glucksende Williamson.
Doch allen Fehltritten zum Trotz, scheint Johnson die Pandemie bislang politisch unbeschadet weitgehend überstanden zu haben. Durch den frühen Start und die Entscheidung, vorerst nur eine Dosis zu verabreichen, ist Grossbritannien sogar derzeit mit seinem Impfprogramm anderen europäischen Ländern weit voraus. Doch sollte die Impfkampagne nicht gelingen oder nicht den erhofften Nutzen bringen, könnte sich der Wind drehen, glauben manche. Und den Tiefpunkt hat das Land nach Ansicht von Experten noch gar nicht erreicht.
Die Unzufriedenheit in Johnsons Tory-Partei über die wirtschaftlichen Schäden durch den Lockdown wächst. Williamson, dem auch der Schlingerkurs bei den Schulschliessungen angelastet wird, könnte bald seinen Posten verlieren, heisst es. Doch ob sich Johnson mit einem Bauernopfer aus der Affäre ziehen kann, scheint ungewiss.