Einsam, ängstlich, trotzigManche Ostukrainer wollen nicht fliehen
Von Francesca Ebel, AP/tpfi
14.7.2022
Die Russen gewinnen in der Ostukraine zunehmend an Boden, Angriffe auf Städte wie Kramatorsk und Slowjansk haben dramatisch zugenommen. Dennoch weigern sich manche Bewohner weiter hartnäckig, woanders Schutz zu suchen – auch wenn es bald zu spät sein könnte.
Von Francesca Ebel, AP/tpfi
14.07.2022, 00:00
14.07.2022, 09:37
Von Francesca Ebel, AP/tpfi
Ausgebrannte Autos und gespaltene Bäume schwelen. Eine Leiche liegt auf dem Boden, bedeckt mit einem Tuch. Verletzte Einwohner sitzen benommen da, bedeckt mit Blut. In der Mitte eines einst beschaulichen sonnigen Hofes klafft ein Krater. Das ist die Szene nach einem jüngsten russischen Raketenangriff auf Kramatorsk in der östlichen Ukraine. An einem anderen Ort in der Stadt sitzt Walerij Iltschenko im Schatten eines Baumes, beschäftigt sich mit einem Kreuzworträtsel. Der 70-jährige Witwer hat Probleme beim Gehen, und dieses tägliche Ritual an der frischen Luft hilft ihm, über den Tag zu kommen.
Just in der vergangenen Woche hat der Gouverneur der Provinz Donezk, Pawlo Kyrylenko, die hier noch verbliebenen 350’000 Einwohner beschworen, sich in den Westen des Landes in Sicherheit zu bringen. Aber wie viele andere Zivilisten, die in dem nunmehr schon fast fünf Monate dauernden Krieg unter Beschuss gekommen sind, denkt Iltschenko nicht daran, woanders Schutz zu suchen – egal, wie nahe die Kämpfe rücken.
Russische Angriffe auf Schlüsselstädte
«Ich habe nichts, wohin ich gehen könnte, und ich will auch nicht. Was würde ich dort tun? Hier kann ich wenigstens auf der Bank sitzen, ich kann Fernsehen gucken», sagte er in seiner Ein-Zimmer-Wohnung der Nachrichtenagentur AP.
Moskau und Kiew kämpfen um die Kontrolle über die Donbass-Region, eine fruchtbare und industrielle Gegend im Osten, wo sich ukrainische Soldaten und von Russland gestützte Separatisten seit 2014 Kämpfe liefern. In den vergangenen Wochen hat Russland deutlich an Boden gewonnen und ist nahe daran, die Provinz Luhansk, die zusammen mit der Provinz Donezk den Donbass bildet, vollständig einzunehmen. Angriffe auf Schlüsselstädte wie Kramatorsk und Slowjansk haben dramatisch zugenommen, jede Woche kommen zahlreiche Zivilisten ums Leben oder werden verletzt.
Seit die Invasion am 24. Februar begann, hat Iltschenko seinen Sohn und seinen Enkel, die in Moskau leben, nicht anrufen können. Er kann sich zwar noch zu einem gewissen Grad selbst versorgen, aber er isst kaum noch. Freiwillige Helfer kümmern sich darum, dass ihm regelmässig Brot, Wasser und Zigaretten geliefert werden, und Nachbarn schauen ab und zu bei ihm herein.
Keine Fluchtmöglichkeiten
Die Fenster im Iltschenkos Wohnung sind bei einem früheren Angriff zertrümmert worden. Während er mit AP-Reportern spricht, heult eine Luftschutzsirene. Aber Iltschenko lächelt und zuckt mit den Schultern. «Wo würde ich hinrennen, wenn die Sirenen anfangen?», fragt er. «Ich habe keinen Keller, also wohin? In diesem Gebäude bleiben wir alle da, wo wir sind.»
Gouverneur Kyrylenko hat in seinem Evakuierungsaufruf an die Bewohner argumentiert, dass die ukrainischen Streitkräfte Städte besser verteidigen könnten, wenn diese menschenleer seien. «Wenn es weniger Leute gibt, können wir uns stärker auf unseren Feind konzentrieren», sagte er. Bis vergangenen Montag hatten nach seinen Angaben 80 Prozent der Bewohner die Region verlassen.
Viele Rentner hängen an ihrer Heimat
Beobachter warnen, dass es Slowjansk und Kramatorsk ergehen könnte wie Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, Städte, die jetzt unter russischer Kontrolle stehen und so heftig bombardiert worden waren, dass sie praktisch unbewohnbar sind.
Dennoch ist bei vielen der Drang zum Bleiben stark, weil sie Rentner sind oder so wenig verdienen, dass sie fürchten, sich ausserhalb ihres gewohnten Lebensbereiches nicht selbst unterhalten zu können. Andere meinen, dass sie in der westlichen Ukraine unwillkommen sein könnten – eine Sorge, die aus dem Glauben resultiert, dass manche Landsleute etwas gegen die vorwiegend Russisch sprechenden Menschen in der Ostukraine haben und sie für den Krieg mitverantwortlich machen.
Einige wenige hegen Sympathien für Moskau, entweder aus nostalgischen Gründen angesichts ihrer russischen Vergangenheit oder weil sie stets das russische Staatsfernsehen verfolgen. Wiederum andere glauben nicht, dass es einen grossen Unterschied macht, unter eine russischen oder ukrainischen Flagge zu leben.
«Wir werden warten, bis dies hier endet»
Wie Iltschenko hat auch Maria Sawon keine Absicht, Kramatorsk zu verlassen. «Warum sollte ich weggehen? Wo man geboren ist, muss man sterben. Dies ist unser Land», sagt die gebückt gehende, fragile 85-Jährige der AP, während sie mit anderen in der sengenden Sonne Schlange steht, um an Essen heranzukommen. Sawon will in einem Land leben, das von den Ukrainern – nicht den Russen – regiert wird, aber sie ist auch misstrauisch gegenüber dem Westen. Sie möchte, wie sie sagt, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Verbindungen zu Europa und US-Präsident Joe Biden kappt und einen Waffenstillstand mit Moskau vereinbart.
Viktor, ein Rentner, der nur seinen Vornamen nennen will, sagt, dass er seine Heimatstadt liebe, aber zu alt zum Kämpfen sei. «Natürlich wäre es eine Schande wegzugehen», erklärt er. «Was würde ich ohne eine Wohnung meinen Kindern hinterlassen? Wir werden warten, bis dies hier endet.»
Und dann sind da Menschen wie die 38-jährige Lena Rawlis, die Angst davor haben, zu bleiben und Angst davor, zu gehen. «Natürlich ist es hier sehr gefährlich, aber der Weg, der herausführt, ist auch sehr gefährlich», sagt sie und verweist auf den schrecklichen Angriff im April auf den Bahnhof von Kramatorsk, bei dem 59 Zivilisten starben und mehr als 100 verletzt wurden.
Gespenstische Stille in Kramatorsk
Dennoch gibt es angesichts des russischen Vorrückens einen ständigen Strom von Menschen, die Städte verlassen, die im Kreuzfeuer des Krieges liegen. Täglich reisen Hunderte mit einem Zug aus Prokowsk ab. So ist es auch auf den Strassen von Kramatorsk gespenstisch still geworden. Die meisten Läden sind geschlossen und die letzten noch betriebsfähigen Cafés verbrettert. Die einst vibrierende Stadt mit etwa 150’000 Einwohnern ist jetzt weitgehend leer.
Iltschenko sagt, dass er sich manchmal einsam fühle. Während er spricht, bereitet sein Nachbar – ebenfalls ein allein lebender Pensionär – Kartoffeln auf einem improvisierten Herd im Freien zu, Gas zum Kochen gibt es in dieser Gegend nicht mehr. Ein dritter Einwohner lebt in der obersten Etage des Gebäudes. «Das ist es», so Iltschenko. «Der Rest ist fort.»