Lagebild Ukraine Neuer Schwung für Selenskyj und alte Probleme für Putin

Philipp Dahm

27.10.2022

Ukraine: an der Front in Cherson

Ukraine: an der Front in Cherson

Bilder von der Frontlinie im Raum Cherson. Die Ukraine will alle von Russland annektierten Gebiete zurückerobern. Die Region Cherson im Süden des Landes ist hart umkämpft. Die russischen Truppen haben sich eingegraben und weichen nicht weiter zurück.

27.10.2022

Während sich in Cherson der Frontverlauf kaum verändert hat, meldet die Ukraine im Nordosten bescheidene Erfolge. Gross ist dagegen die Freude über weitere schlagkräftige Waffen, die der Westen liefern will.

Philipp Dahm

Das Wetter in der Ukraine ist wechselhaft. Während es in Cherson oder Bachmut trocken ist und der Regen erst am Sonntag einsetzt, erschwert in Charkiw Niederschlag sowohl das Vorrücken als auch etwaige Rückzüge. In der kommenden Woche werden die Temperaturen dort nur noch einstellig sein.

Der kalte, schlammige Herbst klopft an die Tür: Umso wichtiger ist es für die Kriegsparteien, das richtige Material an der Hand zu haben. Kiew kann sich sowohl über eingetroffene Lieferungen aus dem Westen als auch über neue Zusagen für entsprechendes Gerät freuen.

Berlin legt sich für die Ukraine ins Zeug: Zu den bereits zugesagten drei Mehrfach-Raketenwerfern vom Typ Mars II sollen zwei weitere Exemplare hinzukommen. Zusammen mit den Niederlanden sollen ausserdem neu 14 statt 10 weitere Panzerhaubitzen 2000 überstellt werden. Abgerundet wird das neue Paket durch zwei nicht näher spezifizierte Drohnen-Fahrzeuge und Munition. Eine Liste der deutschen Hilfe findest du hier.

Gepanzerte Truppentransporter, Artillerie und Flugabwehr

Auch Australien legt in Sachen Militärhilfe nach. Nachdem bereits 60 geschützte Truppentransporter vom Typ Bushmaster in die Ukraine geschickt worden sind, sollen nun noch einmal 30 Fahrzeuge folgen. «Diese gepanzerten Fahrzeuge haben auf dem Schlachtfeld exzellente Ergebnisse erzielt und wir haben nach mehr gefragt», bedankt sich Aussenminister Dmytro Kuleba auf Twitter für die Hilfe, die nie vergessen werde.

Bushmaster in der Ukraine: Die Fahrzeuge sind bei der Truppe in der Ukraine äusserst beliebt, weil sie so resistent gegen Splitter, Minen und sogar direkte Treffer durch Panzerfäuste sind.
Bushmaster in der Ukraine: Die Fahrzeuge sind bei der Truppe in der Ukraine äusserst beliebt, weil sie so resistent gegen Splitter, Minen und sogar direkte Treffer durch Panzerfäuste sind.
Screenshot: YouTube/АрміяInform

Australien wird sich ausserdem an der Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte beteiligen: 70 Experten werden dafür nach Europa verlegt, um in Grossbritannien Ausbilder aus dem Königreich, Neuseeland, Kanada, den Niederlanden, Finnland und Schweden zu unterstützen. Apropos: Stockholm erwägt angeblich die Lieferung von Haubitzen vom Typ Archer und der Flugabwehr Robotsystem 70 an Kiew.

Medientag: Am 14. Oktober durfte die internationale Presse das Training ukrainischer Soldaten in Grossbritannien besuchen. Hier der englischsprachige Bericht von «Al Jazeera».

Zwei weitere Punkte sind in diesem Zusammenhang noch spannend: Zum einen hat sich der CIA-Direktor Bill Burns Anfang des Monats in Kiew heimlich mit Wolodymyr Selenskyj getroffen. Das berichtet CNN unter Berufung auf zwei anonyme Quellen. Es dürfte um den Austausch geheimer Informationen gegangen sein.

Russlands Rüstung lahmt

Israelische Journalisten wollen ausserdem erfahren haben, dass Jerusalem und Kiew in Sicherheitsfragen stärker miteinander kooperieren wollen. Das wiederum könnte der Tatsache geschuldet sein, dass Moskau immer mehr Material in Teheran einkauft. Laut «Jerusalem Post» will der Iran Russland weiteres Kriegsgerät senden.

Darunter ist demnach nicht nur Material wie Schutzwesten oder Helme, sondern auch die Kamikaze-Drohne Arash-2. Zudem soll der Kreml nach ballistischen Raketen aus der Reihe Fateh und vom Typ Zolfaghar angefragt haben.

Dass der Iran plötzlich zu Wladimir Putins Haupt-Waffenlieferant aufgestiegen ist, liegt auch daran, dass Russlands eigene Rüstungsproduktion stockt. Das Arsenal des Kreml dünnt deshalb immer mehr aus, berichtet die «International Business Times». Präsident Putin macht demnach nun Druck: Die Waffenindustrie dürfe sich nicht hinter Formalitäten und Bürokratie verstecken, heisst es.

Putin: Probleme, Probleme, Probleme

Moskau hat auch Probleme an einer anderen Front: Trotz der Teilmobilmachung fehlt es offenbar an Soldaten. Wie «Foreign Policy» berichtet, versucht der Kreml nun, in Afghanistan zu rekrutieren. Im Visier stehen 20'000 bis 30'000 Militärs, die vom Westen ausgebildet und nach dem Rückzug aus dem Land zurückgelassen worden sind.

«Vice» über den maroden Zustand der russischen Armee.

Ausserdem schickt Russland weiterhin Straftäter in die Ukraine: Ein solcher Soldat, der gefangen genommen worden ist, erzählt, er gehöre zu einer Gruppe von 50 Männern, die aus verschiedenen Gefängnissen an die Front gebracht worden sind. Nur 12 davon seien noch am Leben. Der Kriegsgefangene ist wegen Mordes aus Heimtücke verurteilt worden, behauptet jedoch, es sei bloss Notwehr gewesen.

Solche Meldungen decken sich mit einer neuen Einordnung der Nachrichtenagentur «Reuters» und des Washingtoner Institute for the Study of War: Putins Militär sei durch den Krieg «schwer geschwächt und hat grossteils seine Offensivkapazitäten verloren», heisst es. Die Einheitenstärke liege mitunter nur noch bei 20 Prozent, die Führung verliere sich im Mikro-Management und die Moral bleibe weiter am Boden.

Lagebild Nordost-Ukraine

Nach ukrainischer Darstellung haben Putins Truppen versucht, aus dem Oblast Belgorod aus Russland zum Dorf Ternowa in der Region Charkiw vorzustossen. Der Angriff sei jedoch zurückgeschlagen worden. Weiter südöstlich soll es geringe Geländegewinne in Richtung von Kreminna gegeben haben.

So konnte offenbar das Dorf Newske befreit werden, das bereits zum Oblast Luhansk zählt. Wieder weiter südlich im Oblast Donezk gibt es nach wie vor schwere Kämpfe um Bachmut, wo sich die ukrainischen Verteidiger eingegraben und angeblich bereits 8000 russische Soldaten aufgerieben haben. Diese Zahl lässt sich nicht überprüfen. Der Frontverlauf hat sich hier trotz enormen russischen Efforts nicht verändert.

Doch auch hinter der Front herrscht Alarmstimmung: Ukrainischen Partisanen oder aber Spezialeinheiten ist es offenbar gelungen, einen Öl-Umschlagplatz in Flammen aufgehen zu lassen. In Schachtarsk im Oblast Donezk knapp 50 Kilometer hinter der Frontlinie brennen Lager und Züge mit Treibstoff.