Wenn nur die dunklen Wolken nicht wärenNew York lechzt nach Sommer
Benno Schwinghammer/dpa/phi
19.7.2021
New York ist auf dem besten Weg, seine erzwungene Corona-Auszeit mit einem historischen 2021 wettzumachen. Der «Sommer der Freiheit» wird längst mit dem der Liebe 1967 verglichen. Doch es gibt ein Problem.
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19.07.2021, 00:00
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Die Bedienung im Keller von Marie's Crisis schwingt sich auf die rote Holzverkleidung vor dem Klavier und streckt lasziv die Beine aus. Das dicht gedrängte Publikum in der legendären Pianobar im West Village jubelt, eine Frau dreht sich zu ihrer Begleitung und sagt: «New York ist zurück, Baby».
Dreissig Minuten entfernt, auf der anderen Seite des East River, ist die Nacht im Brooklyner Gewerbegebiet weit fortgeschritten, doch die Batterien für die Boxen der DJs halten. Drei Dutzend Menschen tanzen auf der Strasse durch wummernde Techno-Bässe. Ein junger Typ steht still und betrachtet die Szene fast ungläubig, aber mit breitem Grinsen.
Ein Anderer fragt ihn, was er denn genommen habe, ohne Drogen könne man unmöglich so glücklich aussehen. Doch Euphorie ist im heissen New Yorker Sommer 2021 in jedem Geisteszustand angemessen. Die letzten Corona-Restriktionen sind gefallen, in der Weltstadt scheinen ungezügelte Monate angebrochen, die längst mit dem Sommer der Liebe 1967 verglichen werden.
Eine Stadt macht Party
Momentan zeigt sich in der Acht-Millionen-Metropole überall das gleiche Bild. Ob bei den Pride-Partys in den Springbrunnen Manhattans, dem Baden zum Sonnenuntergang im East River, Strassen-Barbecues in Harlem, Block-Partys mit Tänzen auf Autodächern in Queens, den vollen Stadtparks oder zwischen Atlantik und Achterbahnen am Strand Coney Island: New Yorks Tage sind heisser und die Nächte lauter, bunter und länger als die Feiernden sich hier erinnern können.
Doch die vor wenigen Tagen noch grenzenlos erscheinende Freude wird getrübt – denn die Delta-Variante ist auch in Nordamerika auf dem Vormarsch.
Rückblick auf eine der dunkelsten Stunden der Stadt. Die Bilder, die im Frühjahr 2020 um die Welt gehen, haben sich ins Gedächtnis eingebrannt: Der menschenleere Times Square. Hunderte Kühllaster, die Tausende Leichen aus überfüllten Krankenhäusern abtransportierten. Das anschliessende Verscharren der Körper in Massengräbern auf einer Insel vor der Bronx.
2020 – wie der 11. September 2001
Im Hudson vor Manhattan ankerte das Krankenhausschiff Comfort der Navy, bereit, beim drohenden Super-Gau Druck von den Kliniken zu nehmen. Zum Äussersten kam es nie: Bei über 18'000 Patienten gleichzeitig in den Krankenhäusern im gesamten Bundesstaat war die Spitze erreicht, die Beatmungsgeräte reichten aus. Trotzdem starben über Wochen jeden Tag Hunderte. Viele in der Stadt kennen jemanden, der der Seuche erlag.
Sie nennen 2020 immer wieder in einem Zuge mit dem 11. September 2001. Im Juli 2021 sieht die Welt wieder anders aus. Zwar werden die Nachwirkungen der Krise, wirtschaftliche Folgen und ein deutlicher Anstieg der Gewaltverbrechen, nicht so schnell verschwinden. Doch die Aufbruchstimmung überstrahlte die Stadt in den vergangenen Wochen wie die Feuerwerke am Unabhängigkeitstag die Skyline.
Auch Guillermo Valencia durchströmte das Glück, als er kürzlich die Nacht auf einem Pride-Partyboot durchfeierte. Das Schiff fuhr den Hudson River entlang und schliesslich an der Freiheitsstatue vorbei, vor dem 36-jährigen Grafikdesigner aus Kolumbien tanzten Dutzende ausgelassen und ohne Shirt zu Disco-Musik. «Das war Freiheit», schwärmt Valencia, der für die Pride-Feierlichkeiten in die Stadt gereist ist. «Es war perfekt».
Mulmiger Wiedereinstieg
Doch mit der Partylaune kommt für einige neben Unglaube auch leichte Überforderung. Jaysen Henderson steht im Club «Nowadays» im Viertel Ridgewood in Queens. Um ihn herum drängen sich Hunderte, als wäre nichts gewesen, doch dem 27-Jährigen ist etwas mulmig zumute. Einen Monat hatte er die Stadt verlassen, die Clubs waren da noch geschlossen.
Nun ist er den ersten Tag wieder da – und New York trifft ihn mit voller Wucht: «Das überwältigt mich gerade etwas», meint Henderson und wird das «Nowadays» bald verlassen. Die Berührungsängste mit der neuen Freiheit, sie werden verschwinden, da ist Henderson sich sicher. Was jedoch für viele New Yorker bleibt ist eine gewisse Sorge, dass die Normalität eben doch trügerisch ist.
Dass aus dem Sommer der Freiheit eine Insel der Freiheit wird. Denn nicht nur in New York steigt der Anteil der Delta-Variante des Coronavirus schnell. In den USA macht sie Schätzungen zufolge mittlerweile die Hälfte aller Ansteckungen aus. Die Zahl der Infektionen ist auf einem nach wie vor eher geringen Niveau, doch die Kurve zeigt nach oben.
Viel Skepsis in Brooklyn und der Bronx
Mark Levine, der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im New Yorker Stadtrat, ist besorgt: «Das müssen wir ernst nehmen. Wenn Sie nicht geimpft sind, ist die Zeit für Ihre Impfung JETZT», schrieb er kürzlich auf Twitter.
If you haven't gotten the vaccine and have decided you no longer need to because the pandemic is over—you are mistaken.
Cases & positivity, while still low, are rising again in NYC...driven by spread of Delta.
Denn vor allem in Brooklyn und der Bronx, wo die Skepsis gegenüber Impfungen besonders hoch ist, sind noch immer viele Menschen nicht oder nicht vollständig geimpft. Insgesamt sind nur etwas über die Hälfte aller New Yorker vollständig geschützt. Und gleichzeitig strömen immer mehr Touristen zurück in die Metropole.
Was das bedeutet – und ob die Freiheit auch in der Millionen-Metropole zumindest etwas zurückgedreht werden muss – ist momentan noch unklar. US-Präsident Joe Biden sagte kürzlich zumindest, dass er einen neuerlichen Lockdown für unwahrscheinlich hält, wollte aber auch nichts ausschliessen.
Die New Yorker jedenfalls hoffen, dass ihr goldener Sommer anhält, und höchstens von einem goldenen Herbst abgelöst wird.