Bolivien Revolution rückwärts in Bolivien: Morales-Kandidat in Prognosen vorn

SDA

19.10.2020 - 19:37

Evo Morales, ehemaliger Präsident von Bolivien, hebt nach einer Pressekonferenz in Buenos Aires am Morgen nach den Parlamentswahlen in Bolivien die Faust. Der linke Kandidat Arce, von Morales Partei, hat ersten Prognosen zufolge die Präsidentenwahl in Bolivien für sich entschieden. Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa
Evo Morales, ehemaliger Präsident von Bolivien, hebt nach einer Pressekonferenz in Buenos Aires am Morgen nach den Parlamentswahlen in Bolivien die Faust. Der linke Kandidat Arce, von Morales Partei, hat ersten Prognosen zufolge die Präsidentenwahl in Bolivien für sich entschieden. Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa
Source: Keystone/AP/Natacha Pisarenko

Rund ein Jahr nach dem Rücktritt des indigenen Präsidenten Evo Morales hat sich bei der Wahl in Bolivien ein Sieg seines früheren Wirtschaftsministers Luis Arce abgezeichnet.

Nach einer Nachwahlbefragung vom späten Sonntagabend führte der Präsidentschaftskandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS), Architekt der äusserst erfolgreichen Wirtschaftspolitik der Partei, mit 52,4 Prozent der Stimmen. Dahinter lag der liberale Kandidat und Ex-Präsident Carlos Mesa mit 31,5 Prozent. Eine zweite Wählernachbefragung kam zu ähnlichen Ergebnissen.

Das Oberste Wahlgericht in Bolivien hatte am Vortag die überraschende Entscheidung getroffen, dass es bei der mit Spannung erwarteten Abstimmung keine Schnellauszählung am Wahltag geben würde. Dies bedeutet, dass die Bolivianer auf die offiziellen Ergebnisse warten müssen – die Auszählung soll mehrere Tage dauern. Beobachter warnten mit Blick auf die ersten Prognosen vor einer grösseren Fehlertoleranz. Aber es dürfte schwer sein, dass sich der starke vorläufige Trend ändert.

Ex-Staatschef Evo Morales verfolgte die Ereignisse aus dem Exil in Argentinien, spielte im Wahlkampf aber dennoch eine grosse Rolle. Die erste Wahl seit seiner Entmachtung wurde von vielen Experten als Abstimmung über sein politisches Erbe gesehen.

Der 57 Jahre alte Morales-Vertraute Arce präsentierte sich bereits als künftiger Staatschef des politisch gespaltenen südamerikanischen Landes. «Wir werden für alle Bolivianer arbeiten und eine Regierung der nationalen Einheit bilden», versprach er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur ABI. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, gratulierte auf Twitter. Der Zweitplatzierte Mesa räumte seine Niederlage ein: «Wir sind dran, die Spitze der Opposition zu sein», twitterte er.

Mehr als 52 Prozent – so viel hatte Morales damals laut Wahlbehörde auch erreicht, als der frühere Koka-Bauer und Gewerkschafter im Jahr 2005 seine erste Wahl gewann und erster indigener Präsident des Andenstaates wurde. Arce hatte schon in den Umfragen vorne gelegen, bei der MAS-Partei war man von einem Sieg im ersten Wahlgang ausgegangen.

Die Deutlichkeit des Erfolgs übertraf dann jedoch selbst die Erwartungen der Sozialisten, die sich ungewöhnlich nachsichtig und versöhnlich zeigten, und erschütterte die bolivianische Politik. Man könnte fast von einer Revolution sprechen, wenn die Entmachtung des früheren Präsidenten mit der Wahl seines Intimus quasi rückgängig gemacht wird.

Nach der Präsidentenwahl im Oktober 2019 hatte der damalige Staatschef Morales auf Druck des Militärs zurücktreten müssen. Ihm wurde Wahlbetrug vorgeworfen, auch wenn manche Studien inzwischen zu anderen Ergebnissen kommen. Morales setzte sich ins Ausland ab, eine Interimsregierung mit der erzkonservativen Übergangspräsidentin Jeanine Áñez übernahm. Morales' Anhänger und Verbündete in der Region sprechen von einem Putsch.

Es stellte sich die Frage, wie es weitergehen würde in Bolivien. Die Ungewissheit war gross, auch angesichts einer möglichen Rückkehr von Morales im Falle eines Sieges von Arce. Die Wähler haben zumindest eine Antwort darauf gegeben, wer für sie die Fähigkeit hat, das Land im Aufruhr zu beruhigen, zu vereinen und zu führen. Und was auf den ersten Blick wie eine Wahl arm gegen reich und Sozialstaat gegen Liberalismus aussieht, geht weit darüber hinaus.

Zum einen hatte Morales bei seinem «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» eine revolutionäre Rhetorik gepflegt und gegen Imperialismus und Kapitalismus gewettert. Tatsächlich war er allerdings auch pragmatisch und kompromissbereit. Doch vor allem spielt seine Politik für die lange vernachlässigte indigene Bevölkerung Boliviens eine grosse Rolle.

Einige Analysten deuten den vorläufigen Wahlausgang denn auch als historische Wiedererlangung und Bestätigung all dessen, was Morales' MAS-Partei für diese bedeutet hat. Mehr als 60 Prozent der Bolivianer sind Indigene, die das weisse Establishment lange Zeit ignoriert hat. Morales mit seinem bescheidenen Ursprung aus einer Aymara-Familie vertrat den Anspruch, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.

«Evo Morales hat das Land bezüglich der Anerkennung indigener Rechte und ihrer gesellschaftlichen und politischen Beteiligung deutlich vorangebracht», sagt Juliana Miyazaki von der Gesellschaft für bedrohte Völker. Nun konnte eine indigene Hausangestellte plötzlich auch Nachbarin sein. Dank der Einnahmen aus dem verstaatlichten Gasgeschäft verringerte Morales die Armut und verbesserte die Lebenssituation der Indigenen.

Der bolivianische Anwalt Diego Azero sagt, der MAS sei es während des vergangenen Jahres gelungen, sich weiter als die Partei darzustellen, die den Wohlstand bringt. Das Wirtschaftswachstum hatte sich von einem Durchschnitt von jährlich drei Prozent zwischen 1985 und 2005 nach Morales' Amtsübernahme 2006 auf durchschnittlich fünf Prozent beschleunigt. Aber Kritiker werfen ihm und der MAS-Partei auch einen Ausverkauf an China und einen autoritären Stil vor.

Ausser dem gesellschaftlichen Ausgleich, vor allem falls Evo Morales aus dem Exil in sein Heimatland zurückkehren sollte, dürfte die Ankurbelung der Wirtschaft eine der grössten Herausforderungen einer möglichen Arce-Regierung sein. «Bolivien geht in seiner schlechtesten wirtschaftlichen Situation in Jahrzehnten an die Urnen», hatte die bolivianische Zeitung «El Deber» geschrieben. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit, verschuldete Unternehmen und ein Rückgang des Konsums plagen das Land, das lange als Armenhaus Südamerikas galt.

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