Sträfling zog in den Krieg Russischer Überläufer würde für die Ukraine seine «Mutter töten»

Tobias Benz

5.12.2023

Putin will Armee erneut vergrössern

Putin will Armee erneut vergrössern

Seit rund 21 Monate führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nun hat Russlands Präsident Wladimir Putin eine erneute Vergrösserung der Armee angeordnet.

05.12.2023

In Russland unrechtmässig zu sechs Jahren Strafkolonie verurteilt, im Gefängnis von der Söldnertruppe Wagner rekrutiert, an der Front zur Ukraine übergelaufen: die unglaubliche Geschichte von Michail Pavlov.

Tobias Benz

5.12.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Fronten in der Ukraine sind verhärtet, der Frieden scheint in weiter Ferne. Nun lassen die Berichte eines russischen Deserteurs Hoffnung aufkeimen.
  • Michail Pavlov liess sich aus einem russischen Gefängnis für den Ukraine-Krieg rekrutieren, nur um nach zehn Tagen an der Front überzulaufen und gegen Putins Truppen zu kämpfen.
  • Der 24-Jährige berichtet von katastrophalen Bedingungen an der russischen Front und ist sich zu «200 Prozent sicher», dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird.
  • Mittlerweile kämpft er für das ukrainische Freiwilligenkorps und würde nach eigenen Aussagen sogar seine Familie töten, um den russischen Vormarsch aufzuhalten.

Miserable Bedingungen an den Frontlinien, verzweifelte Rekrutierungsversuche in Gefängnissen, zahlreiche Fahnenflüchtige: Viel wurde seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine über die bröckelnde Moral von Putins Truppen berichtet. Nun erzählt einer, der alles hautnah miterlebt hat.

Als desertierter russischer Häftlingssoldat kämpft Michail Pavlov mittlerweile für das ukrainische Freiwilligenkorps und damit gegen sein eigenes Land – und auch gegen die eigene Familie. Was er erzählt, dürfte den Ukrainer*innen Hoffnung machen.

«Sie haben mir Drogen in die Tasche gesteckt, mich in der Nähe meines Hauses verhaftet und zu sechs Jahren Strafkolonie verurteilt», erzählt der ehemalige Versicherungsvertreter Michail Pavlov der slowakischen Investigativ-Tageszeitung «Dennik N». Von da an nahm das Leben des Putin-Kritikers einen neuen Lauf.

Von Prigoschin persönlich rekrutiert

Bei seiner Verurteilung seien fast nur Zeugen aus dem russischen Anti-Drogen-Dezernat anwesend gewesen. Ein abgekartetes Spiel, das ihn aber nicht verwundert: Pavlov hatte in seiner Heimatstadt Iwanowo offen Kritik an Putins Krieg gegen die Ukraine geübt.

Unter härtesten Bedingungen sitzt er über vier Jahre lang in Haft, bis Jewgeni Prigoschin in seinem Gefängnis auftaucht und zur Grundlage seines Fluchtplans wird. «Er kam und sagte: ‹Ich brauche eure kriminellen Fähigkeiten›», erinnert sich Pavlov, der aktuell in Kiew seine Kriegsverletzungen auskuriert, an den Besuch des Chefs der russischen Wagner-Söldnertruppe. 

«Menschen, die wegen Mordes, Raubes, schwerer Körperverletzung oder Vergewaltigung verurteilt wurden, lernen, dass sie die Möglichkeit haben, all das zu tun, was sie getan haben, aber auf legalem Wege, und ohne dass ihnen etwas passieren wird», erzählt der 24-Jährige. Vor allem für Häftlinge, die ein Jahr in einer Strafkolonie verbracht hätten, klinge das verlockend: nach einer Art von «Freiheit, Geld und der Möglichkeit, gesetzlose Dinge zu tun». 

Zehn Tage ohne Essen

Pavlov selbst sieht in Prigoschins Angebot eine andere Gelegenheit. Der Putin-Kritiker will an der Front so schnell wie möglich desertieren, um auf der anderen Seite gegen die russischen Truppen zu kämpfen. Ein gefährlicher Plan, der mit dem Tod hätte enden können. Aber er ging auf.

Pavlov verlässt das Gefängnis, schliesst sich der Häftlingstruppe «Sturm-Z» an und wird nach kurzem Training an einen Frontabschnitt in der Nähe von Mariupol eingeteilt. Sechs Monate Kriegsdienst soll er dort leisten, um sich seine Freiheit zu erarbeiten. «Zehn Tage harrten wir da aus, fast ohne Munition und ohne Essen», schildert der 24-Jährige die miserablen Bedingungen an der russischen Front auch dem «Blick», der seine Geschichte nach eigenen Angaben überprüft hat.

Der Essensengpass gibt Pavlov jedoch Gelegenheit, die Front auf- und abzugehen und sich alles einzuprägen, um es später als Verräter den Ukrainern zu übermitteln. «Wenn mich einer fragte, was ich hier tue, sagte ich: ‹Essen suchen.›» Als er genügend Informationen gesammelt hat, startet er seine Flucht.

Sieben Stunden im Kugelhagel

Pavlov meldet sich freiwillig, um einen gefährlichen Frontabschnitt auszukundschaften und rennt in der Nacht auf den 27. Juni auf die ukrainische Seite. Sieben Stunden lang wird er von den Ukrainern beschossen. Ein zweiter Deserteur, der mit ihm die Flucht wagt, wird von den Kugeln getroffen und stirbt. Pavlov aber überlebt und schafft es tatsächlich auf die andere Seite.

Dort wird seine Geschichte vom ukrainischen Geheimdienst geprüft. Seine Informationen über den russischen Grenzabschnitt bestätigen sich und er schliesst sich dem Freiwilligenkorps an. Aus dem Putin-Kritiker Pavlov wird der ukrainische Soldat «Pers». Den Kampfnamen erhält er von seinen neuen Kameraden.

«Ukrainer zu sein, ist ein seelischer Zustand. Dein Pass spielt keine Rolle. Ich werde für dieses Land hier sterben, wenn es sein muss», sagt Pavlov, für den sogar die eigene Familie zum Feind geworden ist.

Bereit, seine eigene Mutter zu töten

Seinen Vater und seinen Bruder fordert er in Telefonaten zum Kampf auf: «Ich habe keine Zeit, mit euch zu diskutieren. Aber seid keine Feiglinge, kommt an die Front, dann regeln wir das da», antworte er, wenn sie ihn ab und zu anrufen. Im Kampf gegen sein Heimatland Russland würde er sie beide töten, sagt Pavlov. «Auch meine Mutter».

Für seine ehemaligen «Kameraden» hat Pavlov ebenfalls eine Nachricht: «Sammelt Informationen, merkt euch eure Stellungen, meldet euch bei der Hotline, die die Ukraine extra für Deserteure eingerichtet hat. Das ist euer Ticket in die Freiheit!»

Für den russischen Angriffskrieg sieht der 24-Jährige keine Zukunft. Trotz verhärteter Fronten und abnehmender Unterstützung durch ihre Verbündeten ist Pavlov überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. «Zu 200 Prozent», sagt Pavlov, der sich mit der Situation an beiden Seiten der Front sehr gut auskennt.

Es sind Worte, die den Ukrainern vor dem Wintereinbruch Mut machen dürften. Ein kleiner Lichtblick in einem kriegsgebeutelten Land, in dem auch vor dem zweiten Jahreswechsel in Folge wenig Hoffnung auf eine Waffenruhe besteht.