Das Cherson-Paradox Russland zieht sich ins Unglück zurück

Von Philipp Dahm

11.11.2022

Selenskyj: Mehr als 40 Ortschaften im Süden zurückerobert

Selenskyj: Mehr als 40 Ortschaften im Süden zurückerobert

Die Ukraine hat nach eigenen Angaben mehr als 40 Städte und Dörfer beim Vorstoss auf Cherson im Süden des Landes von Russland zurückerobert. Dies sagt Präsident Selenskyj in seiner neusten Ansprache.

11.11.2022

Russland räumt Cherson, um am Ostufer des Dnjepr eine neue Verteidigung aufzubauen. Doch der Rückzug macht die Lage der Armee nicht unbedingt besser – und der Blutzoll für die Verlegung soll hoch sein.

Von Philipp Dahm

11.11.2022

Es ist die Taktik der ukrainischen Streitkräfte seit August: Mit weit reichender Artillerie werden die Brücken über den Dnjepr zerstört, die nach Cherson führen. Kiew schneidet damit der russischen Armee den Nachschub ab – und dennoch führt Moskau fieberhaft Soldaten nach, um die angekündigte Offensive auf Cherson abwehren zu können.

Dann kündigt Russlands Statthalter erst den Abzug der Truppen an, korrigiert sich kurz darauf, dass doch bloss Zivilisten evakuiert würden – und kurz darauf stirbt Kirill Stremousow bei einem ominösen Autounfall. Wladimir Putin bestätigt, dass die Armee bleibt, wo sie ist.

Schliesslich sagt der Oberbefehlshaber der «Spezial-Operation» dem Verteidigungsminister im Kreml vor laufender Kamera, man müsse Cherson nun doch räumen, weil der Nachschub abgeschnitten sei. Die russische Propaganda hat dann auch Mühe, das Chaos zu erklären. Aber: Wer nicht nur gegen die Ukraine, sondern die halbe Welt kämpft, kann natürlich in eine Situation kommen, in der man sich zurückziehen muss.

Staats-TV: «Wir stehen im Krieg mit der NATO»

«Um so eine Entscheidung zu treffen, muss man ein sehr mutiger Mann sein», gibt Wladimir Solowjow im Staatsfernsehen die Stossrichtung vor. «Wir stehen im Krieg mit der NATO. Wir werden von 50 Prozent der Weltwirtschaft konfrontiert.» Und die ziele «mit der Stinger auf das Herz unseres Landes», so der Moderator, der enge Beziehungen zu Putin hat.

Man müsse nun «die Entscheidung des Militärs respektieren» und auch wenn es «traurig» sei, müsse man «neue Realitäten anerkennen». Eine kleine, professionelle Armee sei überfordert, wenn sie die «Armee der NATO» bekämpfen müsse. Einig ist sich die TV-Runde übrigens, dass der Abzug bewusst nicht vorher verkündet worden ist, um den Demokraten bei den US-Wahlen keinen Trumpf in die Hand zu geben.

«Amateure reden über Strategie. Profis reden über Logistik.»

Omar Bradley

US-General

Natürlich ist die offizielle Begründung des Kremls nachvollziehbar: Der Nachschub für die Truppe ist elementar, um Cherson zu verteidigen. Je schlechter die Versorgung mit Waffen, Munition, aber auch mit Nahrung und Wärme ist, desto mehr würden die Soldaten dort verheizt. Ohne Rückzug wären Tausende in die Gefahr geraten, eingekesselt zu werden.

Neue Verteidigungslinien mit strategischen Nachteilen

Und dennoch wirkt die neue Strategie des Kremls so, als würde sich die Lage der Armee kaum verbessern: Die Truppen heben östlich des Dnjepr drei neue Verteidigungslinien aus. Die erste direkt am Ufer, die zweite in 5 bis 10 Kilometer und die dritte in 20 bis 25 Kilometer Entfernung. Der Fluss dient dabei als natürliche Barriere.

Das Problem: Die Topografie wirkt sich hier eher gegen die Verteidiger aus. Denn das westliche Dnjepr-Ufer ist höher als der Teil im Osten. Die ukrainische Seite kann auf die russischen Stellungen hinunterschiessen – und wenn der Damm in Nowa Kachowka gesprengt werden würde, würde sich die Flut über die neuen russischen Verteidigungslinien ergiessen.

Topografie am Dnepr: Das westliche Ufer mit Cherson liegt höher als der östliche Teil.
Topografie am Dnepr: Das westliche Ufer mit Cherson liegt höher als der östliche Teil.
Karte: u/PatientBuilder499

Nun ist es nicht gerade wahrscheinlich, dass Kiew eine Katastrophe herbeisprengen und das eigene Land unter Wasser setzen würde. Doch ob die Defensive gut gewählt ist, darf bezweifelt werden. Unklar ist bis dato zudem, ob abgezogene Einheiten östlich des Dnjepr zur Verteidigung aufgestellt oder in ganz andere Gefilde verlegt werden – wie etwa nach Belarus.

Ukrainische Armee rückt in Cherson nach

Die ukrainischen Streitkräfte sind zwar skeptisch ob des Rückzugs, rücken aber auf breiter Front im Oblast Cherson nach. Spezialeinheiten befänden sich bereits vor Ort, berichten zumindest russische Militär-Blogger. Sieben Kilometer sollen Kiews Kräfte am 10. November an den verschiedenen Abschnitten jeweils gutgemacht haben, so das Institute for the Study of War (ISW).

Das sei durch geolokalisierte Social-Media-Beiträge bestätigt worden, schreibt die Washingtoner Denkfabrik. Unter den Ortschaften, die befreit werden könnten, sei unter anderem auch Kyselivka, das an der wichtigen Verbindungsstrasse M14 liegt und nur 14 Kilometer von Cherson entfernt ist.

Aktuelle Lage-Karte der Cherson-Region.
Aktuelle Lage-Karte der Cherson-Region.
Institute for the Study of War

Gleichzeitig liefern sich beide Kriegsparteien weiter erbitterte Artillerie-Duelle. Die Ukraine greift nach eigenen Angaben weiterhin Truppen-Konzentrationen in Cherson an und war laut ISW in Oleschky erfolgreich, das östlich des Dnjepr liegt und sieben Kilometer von Cherson entfernt ist. Das Pentagon schätzt, dass Russland täglich 20'000 und die Ukraine 4000 bis 7000 Granaten pro Tag verschiesst.

Angeblich hohe Verluste beim Rückzug

Die Antoniwkabrücke in Cherson soll inzwischen vollständig zerstört worden sein – und zwar von russischen Truppen, um ein späteres Übersetzen des Gegners zu verhindern. Gleichzeitig soll es angeblich hohe Verluste russischer Truppen beim Abzug gegeben haben – und Fusssoldaten nutzen nun offenbar eine verbliebene Ponton-Brücke, um sich auf das Ostufer des Dnjepr zu retten.

An den anderen Frontabschnitten gibt es kaum Bewegung. Russland reibt seine Kräfte weiter an den ukrainischen Verteidigungslinien in Bachmut auf. Weit südlich kann zumindest die Eroberung des Flughafens von Donezk als Erfolg vermeldet werden. Südlich von Bachmut im Oblast Luhansk wollen Putins Soldaten den Ort Bilohoriwka eingenommen haben.

Blick vom Südwesten auf die russische Lebensader in Luhansk, die in Trojizke nahe der russischen Grenze beginnt und via Scheine und Strasse über Swatowe und Kreminna nach Sjewerodonezk führt.
Blick vom Südwesten auf die russische Lebensader in Luhansk, die in Trojizke nahe der russischen Grenze beginnt und via Scheine und Strasse über Swatowe und Kreminna nach Sjewerodonezk führt.
Google Earth

In Charkiw und im Westen von Luhansk wiederum versuchen ukrainische Truppen weiter, Druck auf die Verteidigung zwischen Swatowe und Kreminna auszuüben. Dabei soll das Dorf Stelmachiwka eingenommen worden sein, das etwa 15 Kilometer vom Verkehrsknotenpunkt Swatowe entfernt ist.