Regierungskrise in Österreich Sebastian Kurz steht am Abgrund

dpa/tsha

7.10.2021

Die Razzia in Kanzleramt und ÖVP-Zentrale hat ein politisches Erdbeben ausgelöst. Die Grünen scheinen auf Distanz zum Koalitionspartner zu gehen. Naht das Ende der Kanzlerschaft von Kurz?

dpa/tsha

7.10.2021

Für Sebastian Kurz wird es eng, sehr eng. Das ist der praktisch einhellige Tenor auch der konservativen Blätter unter den österreichischen Medien nach den schweren Korruptionsvorwürfen gegen den Kanzler. Auch wenn Österreichs 35-jähriger Regierungschef den Ermittlungen «gelassen» entgegensieht und jede Schuld bestreitet, ist die Dimension von einer neuen Brisanz.

Nicht nur Kurz, auch sein engstes Umfeld – sein Medienberater, sein Chefstratege, ein Pressesprecher – sind im Visier der Fahnder. «Das kann sich jetzt gut und gern zum Endgame auswachsen», sagt der Politikberater Thomas Hofer am Donnerstag. Die mächtigen Landesfürsten der ÖVP würden jetzt sicher über personelle Alternativen zu Kurz nachdenken.



Am Mittwoch hatten Fahnder im Kanzleramt, in der ÖVP-Zentrale, im Finanzministerium und in einem Medienhaus Datenträger, Server, Handys und Laptops gesichert. Kurz und sein Team sollen ein österreichisches Medienhaus für geschönte Umfragen mit mehr als einer Million Euro aus Steuermitteln bezahlt haben. Sowohl Kurz als auch das Medienhaus bestreiten die Vorwürfe vehement.

Sebastian Kurz gerät immer mehr unter Druck.
Sebastian Kurz gerät immer mehr unter Druck.
Bild: Keystone

«Tag Null eines neuen Österreich»

Die Grünen als Koalitionspartner der ÖVP ergriffen am Donnerstag die Initiative. Ihr Vorstoss, sich nun mit anderen Parlamentsparteien beraten zu wollen, setzt die ÖVP unter Entscheidungsdruck. Die Opposition ist sich einig wie selten. «So kann das nicht weitergehen in unserem Land», sagte die Chefin der liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger. Die Affäre müsse der Startschuss für eine andere Kultur sein. «Ein Tag Null eines neuen Österreich», forderte die Liberale.

Die Chefin der liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger, fordert Konsequenzen.
Die Chefin der liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger, fordert Konsequenzen.
Bild: Keystone

Der Verdacht der Staatsanwaltschaft gegen den Kanzler selbst ist klar formuliert: «Sebastian Kurz ist die zentrale Person: sämtliche Tathandlungen werden primär in seinem Interesse begangen», heisst es in der Durchsuchungsanordnung. Alle beteiligten Personen «mussten sich dem übergeordneten Ziel – ihn zur Position des Parteiobmanns und in weiterer Folge des Bundeskanzlers zu führen und diese danach abzusichern – unterordnen», so die Ermittler.

Es gibt unterschiedliche Szenarien, wie es weitergehen könnte. So wäre nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag im Parlament der Bundespräsident am Zug. Das Staatsoberhaupt könne einen neuen Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin ernennen, verweist der Politologe Peter Filzmaier auf die Verfassung. «Es muss nicht automatisch Neuwahlen geben», sagt er.

«Er weiss, dass es kein Rückfahrt-Ticket gibt»

Aus einer Wahl würde nicht unbedingt die ÖVP als Verliererin und die anderen Parteien als Gewinner hervorgehen, gab Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle zu bedenken. «Ich bin nicht sicher, wie das ausgeht», sagte sie. Der bislang beliebte Kurz könnte von seinen Anhängern als Märtyrer gesehen werden. Und die Grünen könnten sich nicht darauf verlassen, mit den zuletzt angeschlagenen Sozialdemokraten und den liberalen Neos eine stabile Koalition zustande zu bringen.

Die Ermittlungen gegen Kurz sind so oder so eine grosse Belastungsprobe für das Land. «Das Verfahren steht ja erst am Anfang, die zehn Beschuldigten wurden noch nicht einmal einvernommen», sagt Filzmaier. Damit drohe eine jahrelange Diskussion darüber, ob der Regierungschef sich schuldig gemacht habe oder nicht. Eine verschärfte Polarisierung der Gesellschaft sei schon jetzt absehbar, sagt der Politologe.



Dass sich Kurz die Aussicht auf Siege etwas kosten lässt, machte schon der Wahlkampf 2017 deutlich. Auf dem Weg ins Kanzleramt verstiess die ÖVP deutlich gegen die Wahlkampf-Kostengrenze. Die Partei gab rund 13 Millionen Euro aus, erlaubt war den Parteien ein Betrag von jeweils 7 Millionen Euro. Das war allerdings keine Premiere, schon 2013 hatte die ÖVP mehr ausgegeben als vorgesehen.

Dass Kurz im Augenblick nicht zurücktreten wolle, erscheint Filzmaier logisch. «Er weiss, dass es in absehbarer Zeit kein Rückfahrt-Ticket gibt.» Tatsächlich sagte Kurz am Donnerstagnachmittag, er wolle seine Koalition mit den Grünen trotz der Korruptionsvorwürfe gegen ihn fortsetzen. «Ich hoffe, dass wir weiterhin stabile Verhältnisse in unserem Land haben», sagte Kurz (ÖVP) vor Journalisten und spielte den Ball an die Grünen, die seine Handlungsfähigkeit in Frage gestellt hatten. «Wenn die Grünen also nicht mehr diese Zusammenarbeit fortsetzen wollen und sich andere Mehrheiten im Parlament suchen wollen, dann ist das zu akzeptieren.»

Politiker der Grünen hatten zuvor signalisiert, dass sie die Zusammenarbeit mit den Konservativen fortsetzen würden, falls Kurz sich zurückzieht. Doch die ÖVP-Minister in der Regierung erteilten diesem Plan eine Absage. «Eine ÖVP-Beteiligung in dieser Bundesregierung wird es ausschliesslich mit Sebastian Kurz an der Spitze geben», betonten sie in einer gemeinsamen Erklärung.