Kampf gegen Menschenhandel«Manchmal nützen ganze Familien ukrainische Frauen aus»
Von Alex Rudolf
15.7.2022
Klingelt das Telefon, muss sich Yulia Anosova auf das Schlimmste gefasst machen. Die 31-Jährige ist Juristin und arbeitet für den Telefondienst einer Hilfsorganisation für Ukrainerinnen.
Von Alex Rudolf
15.07.2022, 14:43
Alex Rudolf
Frau Anosova, Sie helfen Frauen, die von Menschenhandel und geschlechterbezogener Gewalt betroffen sind. Was hat sich seit Ausbruch des Krieges verändert?
Zwischen 2010 und Kriegsbeginn dieses Jahres verstärkte sich ein Trend. Ukrainerinnen wurden weniger und weniger sexuell ausgebeutet, dafür immer öfter als Arbeitskräfte. Da seit dem Beginn des Krieges keine Zahlen erhoben werden und generell auch keine Forschung auf diesem Gebiet betrieben wird, ist es schwierig einzuschätzen, ob sich dieser Trend verändert hat. Aktuell sind es oftmals Verwandte, die sich bei uns melden, weil ihre Frauen, Mütter oder Töchter irgendwo in einem westeuropäischen Land verschwunden sind.
Welche Länder kommen hier besonders oft zur Sprache?
Die meisten Menschenhändler werden uns aus Polen gemeldet, aber Spuren von vielen Frauen verwischen sich auch in Frankreich – die Gründe hierfür sind uns nicht bekannt.
Wie gehen die Täter*innen vor?
Oftmals bieten diese den Ukrainer*innen Unterkünfte an. Im Gegenzug dazu müssen sie in der Regel Hausarbeiten wie Kochen oder Putzen ausführen oder die Pflege von älteren Familienmitgliedern übernehmen. Oft kommt es auch vor, dass die Frauen erst im Nachhinein von solchen Bedingungen erfahren. Ursprünglich gingen sie davon aus, dass die Unterbringung kostenlos war. Da die Frauen keinen Lohn erhalten und hart arbeiten, ist dies Ausbeutung.
Was tun Sie dann?
Verschwinden Frauen spurlos, kontaktieren wir die Botschaft und Hilfsorganisationen, die Standorte in den betroffenen Staaten betreiben. So erhöhen sich die Chancen, dass auch tatsächlich nach diesen Frauen gesucht wird. In Fällen von Arbeitsausbeutung raten wir den Opfern, die lokalen Behörden zu kontaktieren. Zudem unterstützen wir die Frauen bei der Suche nach einer anderen Unterbringung.
Yulia Anosova
Die 31-jährige Yulia Anosova arbeitet seit dreieinhalb Jahren bei La Strada. Sie hat einen Doktortitel in internationalem Recht und spezialisierte sich anschliessend auf sexuelle Gewalt.
Gibt es einen typischen Täter?
Jeder kann ein Täter sein – auch Frauen. Manchmal kommt es vor, dass ganze Familien ukrainische Frauen als Arbeitskraft ausnützen. Bei der sexuellen Ausbeutung sind in der Regel Männer die Täter. Doch auch Frauen rekrutieren andere Frauen.
Wie gehen die Frauen vor?
Unterschiedlich. Ein Beispiel, das mir in den Sinn kommt, spielte sich in den sozialen Medien ab. Eine Mutter schrieb eine Stelle als Nanny für ihren 15-jährigen Sohn aus. Eine Ukrainerin, die mit dieser Dame Kontakt aufnahm, meldete uns, dass sich mit der Zeit herausgestellt habe, dass die Nanny dem Sohn auch sexuell gefällig sein sollte. Es wurde nicht von Beginn weg mit offenen Karten gespielt, sondern nach und nach kamen die wahren Motive ans Licht.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien generell in der Rekrutierung?
Für Menschenhändler ist es sicherer, die Frauen online zu rekrutieren, da eine Rückverfolgung schwieriger ist. Einzig zu Beginn des Krieges wurden auch Frauen an grossen europäischen Bahnhöfen angesprochen – die Offline-Rekrutierung war hier bemerkenswert. Denn auch durch Covid hatte sich die Rekrutierung und Ausbeutung ins Internet verlagert.
Wie das?
In der Ukraine verloren viele während der Pandemie ihre Arbeitsstelle, was das Problem verschärfte. Es gab einige Fälle von Frauen, die von ihren Partnern dazu gezwungen wurden, Sex vor der Webcam zu haben.
Wie hat der Krieg die Situation verändert?
Davor gingen Frauen zum Geldverdienen nach Westeuropa, um ihre Familien in der Heimat zu unterstützen. Nun haben sie keine Wahl und müssen das Land verlassen. Auf ganz vielen Ebenen sind Frauen nun viel verletzlicher.
La Strada Ukraine
Die Hilfsorganisation ist Teil des Netzwerks «La Strada international», das in acht Staaten, darunter Weissrussland, Polen und der Ukraine aktiv ist. Das Büro in Kiew beschäftigt rund 20 Spezialist*innen, die Frauen in Problemsituationen zur Seite stehen. Neben Jurist*innen arbeiten auch Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen für die Organisation.
Stehen die Chancen gut, dass verschwundene Frauen wiedergefunden werden?
Das hängt davon ab, wie gut die Behörden in den betreffenden Ländern arbeiten. Wir melden unsere Fälle der ukrainischen Botschaft vor Ort, die das Verschwinden der lokalen Polizei meldet. Das Problem: Die ukrainischen Botschaften in vielen Ländern sind hoffnungslos überlastet – verständlicherweise.
Sind Ihnen auch Fälle aus der Schweiz bekannt?
Vor dem Krieg wurden uns zahlreiche Fälle aus der Schweiz gemeldet, aber seit Kriegsbeginn gab es noch keinen mit Bezug zur Schweiz.
Sexuelle Gewalt ist auch ein Kriegswerkzeug, das von Russland laut mehreren Berichten angewendet wird. Sehen auch Sie das so?
Wegen des Kriegs ist in der Ukraine alles sehr chaotisch, wir können uns daher nicht auf Zahlen und Fakten berufen. Was wir jedoch wissen: Wir haben seit März 16 Meldungen erhalten, bei denen es um 21 Fälle von Vergewaltigung von Frauen, Männern und Kindern in der Ukraine ging, die von russischen Soldaten verübt wurden. Das sind markant mehr, als bei der Annexion der Krim und dem Donbass-Konflikt 2014 bis 2015 eingegangen sind.
Wie geht es den Frauen, die in der Ukraine geblieben sind?
Sie fühlen sich speziell unsicher. Bei den Anrufen auf unserer Hotline stellen wir eines fest: Viele Familien bereiten sich auf die Vergewaltigung ihrer Frauen und Töchter vor. So wird jedem Familienmitglied eine Rolle zugeteilt. Kindern, die ihre Mutter eigentlich beschützen wollen, wird beigebracht, dass sie zum Nachbarn oder der Polizei fliehen sollen, wenn sie sehen, dass ihre Mutter vergewaltigt wird. In besetzten Gebieten gibt es keine ukrainische Polizei, weshalb den Kindern auch beigebracht wird, unsere Hotline zu anzurufen.
Wie optimistisch sind Sie, dass die Vergewaltiger zur Rechenschaft gezogen werden?
Aus rechtlicher Sicht gibt es einige Probleme. So ist die ukrainische Gesetzgebung nicht darauf ausgerichtet, dass Vergewaltigungen als Kriegsmittel verwendet werden können. Auch den ukrainischen Behörden fehlt es an ausreichend Zugang zu den Tatorten, wenn diese im besetzten Gebiet sind, aber auch an Ausbildung und Sensibilität, um einen Fall gründlich ermitteln zu können. Das sieht man etwa bei den Fällen, die sich 2014 ereignet hatten. Im Nachzug zu diesen gab es keine Verurteilungen.