Im Krieg geboren «Von einem Moment auf den anderen war alles ruiniert»

dpa/twei

25.2.2023 - 23:55

Anastasiia Morhuns Sohn Roman wurde am 24. Februar 2022, dem Beginn des Ukraine-Krieges in der Ukraine geboren.
Anastasiia Morhuns Sohn Roman wurde am 24. Februar 2022, dem Beginn des Ukraine-Krieges in der Ukraine geboren.
Bild: AP Photo/Hanna Arhirova

Unter oft traumatischen Umständen brachten ukrainische Mütter am Tag der russischen Invasion ihre Kinder zur Welt. Die Familien hoffen, dass das erste Kriegsjahr bei den Kleinen keine Spuren hinterlassen hat.

Anastasia Morhun wusste, dass die Geburt ihres Babys ihr Leben ändern würde. Sie bereitete sich akribisch vor und las viel über Neugeborene. Doch auf den Angriffskrieg Russlands gegen ihr Heimatland konnte sich die junge Ukrainerin nicht einstellen. Die Invasion begann am 24. Februar 2022 – am selben Tag brachte Morhun ihren Sohn Roman zur Welt. «Von einem Moment auf den anderen war alles ruiniert», sagt sie.

Ihre ersten gemeinsamen Stunden verbrachten Mutter und Kind in einem Luftschutzkeller der Geburtsklinik, während im ganzen Land Fliegeralarm heulte und Raketen einschlugen. Morhun, die nach ihrem Kaiserschnitt unter Schmerzen litt, spricht von einem «langen, langen dunklen Tag». «Ich habe gelernt, Mutter zu sein», sagt die 29-Jährige. «Aber es war tatsächlich viel einfacher als die Realität des Krieges zu akzeptieren.»

Der 24. Februar ist für immer eingebrannt in das kollektive Bewusstsein der Ukrainerinnen und Ukrainer – und auf besondere Weise für all jene, die Eltern wurden, als die ersten Bomben fielen. Für sie ist dieser Tag nicht nur mit Schrecken, sondern auch mit Freude verbunden. Als sie am Freitag die erste Kerze auf dem Geburtstagskuchen ihrer Kinder auspusteten, entzündete andere Landsleute Kerzen zum Gedenken an die Toten.

«Es ist eine Tragödie für das ganze Land»

Morhun sagt im Rückblick über die vergangenen 365 Tage: «Es war ein sehr schwieriges, aber sehr frohes Jahr für mich.» Sie schätzt sich glücklich: Roman ist gesund und offenbar nicht traumatisiert. Morhun selbst lassen dunkle Erinnerungen an die ersten Tage mit ihrem Baby nicht los, vor allem ein Raketenangriff in der Nähe der Entbindungsklinik in Kiew zwei Tage nach Romans Geburt. «Das war das erste Mal, dass ich wirklich Angst hatte», sagt sie. «Ich habe einfach nur mein Kind geschnappt und bin in den Keller gerannt.»

Auch Alina Mustafaiewa wurde am 24. Februar vergangenen Jahres Mutter. Ihr erstes Kind kam in Charkiw zur Welt, als die ersten Explosionen die zweitgrösste ukrainische Stadt erschütterten. Während der Erstuntersuchung ihrer Tochter Jewa zwang sie sich zu positiven Gedanken, weil sie sich den magischen Moment nicht durch den Krieg zerstören lassen wollte. «Ich habe meine Jewa zur Welt gebracht, und darüber wollte ich mich freuen», sagt die 30-Jährige.

Die Feier zum ersten Geburtstag hat Mustafaiewa jetzt auf Samstag verschoben, um nicht am Jahrestag des Krieges zu feiern. «Es ist eine Tragödie für das ganze Land, für alle in der Ukraine», erklärt sie. «Meine Familie hatte Glück, wir haben nichts und niemanden verloren. Aber vielen geht es anders, und wir müssen diese Verluste zusammen betrauern.»

Explosionen statt behütete Kindheit

Jewa krabbelt inzwischen durch die Wohnung, ist neugierig und verspielt. Mustafaiewa zieht das kleine Mädchen instinktiv vom Fenster weg, sobald Explosionen zu hören sind. Sie hofft, dass sich schlechte Erinnerungen bei Jewa noch nicht einprägen werden.

«Ich glaube nicht, dass sie sich an alles erinnern wird, was sie mit mir durchgemacht hat», sagt die junge Mutter. «Aber wenn sie grösser wird, werde ich es ihr in allen Einzelheiten erzählen.»

Doch auch wenn Eltern hoffen, dass sich ihre am Tag des Kriegsbeginns geborenen Kinder nicht an ihr erstes Lebensjahr werden erinnern können, kommen sie nicht umhin, deren erste Entwicklungsschritte mit Angst und Blutvergiessen in Verbindung zu bringen.

Anastasiia Morhun und ihr Sohn Roman verbrachten die ersten gemeinsamen Stunden in einem Luftschutzbunker.
Anastasiia Morhun und ihr Sohn Roman verbrachten die ersten gemeinsamen Stunden in einem Luftschutzbunker.
Bild: AP Photo/Hanna Arhirova

Mit dem frisch geborenen Baby im Luftschutzkeller

Anastasia Hawrischenko wurde am 24. Februar kurz nach Mittag in der Stadt Sumy von ihrem zweiten Kind entbunden, einem Jungen. Kurz darauf musste die 30-Jährige während eines Angriffs mit Ärzten und anderen Müttern in einem Keller Schutz suchen. «Ich wusste, dass das so nicht sein sollte», sagt Hawrischenko. «Es war nicht normal und seelisch sehr hart.»

Traumatische Erinnerungen hat sie auch an ihren ersten Spaziergang mit Artem. Die Strassen waren leer und die meisten Läden geschlossen, aber sie wollte, dass ihr Baby an die frische Luft kommt. Nach zehn Minuten heulten die Sirenen. Die junge Mutter hörte ein Flugzeug und sah Menschen, die in Kellern Schutz suchten. Sie lief mit Artem in ihre Wohnung zurück.

Dann gingen bei einer Explosion Fenster und Türen zu Bruch, Strom und Wasser fielen aus. Weinend sass Hawrischenko mit Artem auf dem Arm auf ihrem Sofa. «Ich wollte nur verstehen, warum uns das passiert», sagt sie. «Was hatten wir falsch gemacht?»

Ein Jahr später hat sich die Familie so gut wie eben möglich an die Situation angepasst. Hawrischenko weiss, wie sie mit Stromausfällen umgehen muss, und hat Wasservorräte angelegt. «Wir haben nur ein Leben, also müssen wir weitermachen», sagt sie, «das Beste hoffen und unseren Kindern das geben, was wir ihnen geben können.»

dpa/twei