Wie drei Ukrainer den Krieg erleben
Vor fast einem Jahr marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Von einem auf den anderen Tag veränderte sich das leben für Millionen Menschen grundlegend. AFPTV hat drei von ihnen getroffen.
23.02.2023
Ein Jahr ist es her, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Vier Ukrainerinnen blicken zurück und erzählen, wie sie den Ausbruch des Krieges erlebt haben und über ihre Hoffnungen eines Tages zurückzukehren.
Alisa* (27), aus Saporischschja ist nach Orleans (Frankreich) geflüchet
Eine Freundin hat mich darüber informiert, dass der Krieg begonnen hat. Zuerst glaubte ich ihr nicht. Erst als ich die unsäglich langen Autokolonnen sah, die in den Westen des Landes fuhren, habe ich alles verstanden. Ich hatte so sehr Angst.
Vor der grossen Invasion lebten wir unser Leben. Obwohl ich 2014 bereits den Angriff auf den Donbass miterlebt hatte, habe ich begriffen, dass etwas viel Schlimmeres passiert war. Ich habe nur nicht dieses Ausmass erwartet, besonders im 21. Jahrhundert nicht.
Der 24. Februar war wie ein Albtraum. Die Menschen hatten grosse Angst, die Situation war sehr angespannt. Wir verstanden nicht, was wir tun sollten, was in einer Stunde sein, geschweige denn, was morgen passieren würde. Das einzige, was wir tun konnten, war mit unseren Eltern, Freunden und Familienangehörigen so gut es ging in Kontakt zu bleiben.
«Ich glaube daran, dass die Ukraine in Zukunft frei sein wird.»
Jetzt hoffen wir nur, dass alles in Ordnung kommt, auch wenn es nie mehr so sein wird wie früher. Es wird sehr schwierig sein, zurückzukehren und die verwüsteten Häuser zu sehen und zu realisieren, dass der Krieg viele Menschenleben gefordert hat. Das ist schrecklich und passt überhaupt nicht in unsere Köpfe.
Wir haben keine andere Wahl, als uns zu einer Faust zu formen, die den Feind zurückschlägt. Das hat viele andere Nationen überrascht und inspiriert: Ein so kleines Land kämpft um sein Überleben, um sein Volk, um seine Territorien – mit Schweiss und Blut. Ich schaue ständig in die Nachrichten. Wir glauben an die Streitkräfte der Ukraine, mit Spenden versuchen wir sie zu unterstützen und hoffen auf das Beste.
Ich glaube daran, dass die Ukraine in Zukunft frei sein wird und all ihre Territorien zurückerobern wird. Sie wird sich als gutes europäisches Land entwickeln. Denn mit dem Krieg lernen wir wieder zu schätzen, was wir hatten.
Valeria* (26), aus Charkiw ist nach Barcelona (Spanien) geflüchtet
Am 24. Februar weckte mich ein Anruf einer Arbeitskollegin. Sie sagte mir, ich soll aufstehen, ohne ihn Panik zu verfallen meine Koffer packen und bereit sein. Denn wir würden beschossen. Erst als ich die Explosionen hörte, begann ich zu realisieren, was passiert war.
Ich dachte, es würde wie 2014 sein, und dass sich die Spannungen vor allem im Donbass intensivieren würden. Weil einige der Meinung waren, dass der Angriff nicht bis nach Kiew gelangen würde, kaufte ich mir einen Tag vor Kriegsausbruch ein Ticket für den 26. Februar von Charkiw nach Kiew. Der Rest ist Geschichte.
«Der russischen Armee bin ich nie begegnet. Ich hatte Glück.»
Ich habe immer noch schöne Erinnerungen an Charkiw. Aber der 24. Februar und die darauffolgenden Tage haben alles verändert. Ich erinnere mich, als ich die Strasse entlang ging ... Ich fragte mich bei jedem Schritt, ob ich beim nächsten erschossen werde. Es war wie in einem Horrorfilm – die Strassen waren dunkel und Schüsse waren zu hören. Ich fühle mich immer ängstlich und habe Angst vor Luftangriffen. Denn in fast jeder Stadt habe ich Familie, Freunde oder Bekannte. Man wandelt auf dünnem Eis, denn bei jedem Angriff kann es einen deiner Leute treffen. Die Angst war gross, ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so gefühlt zu haben.
Der russischen Armee bin ich nie von Angesicht zu Angesicht begegnet. Ich hatte Glück. Ich sah nur aus der Ferne einen Konvoi von gepanzerten Wagen.
Ich denke schon, dass ich nach dem Krieg in mein altes Leben zurückkehren kann. Es wird zwar weh tun, aber die Zeit wird die Wunden heilen. Mal sehen.
Es scheint mir, dass die Ukraine nach dem Sieg das Zentrum Europas sein wird. Es wird zwar einige Zeit dauern, aber ich spüre, dass sich die Ukraine schneller entwickeln wird, alles wird besser als zuvor.
Sofia* (28), aus Kiew und immer noch da
Ich war bei der Arbeit, als um fünf Uhr die Invasion begann. In dem Moment fühlte ich keine Angst, es gab nur eine Reihe von Aufgaben zu erledigen.
Leider habe ich nur nicht erwartet, dass der Krieg ein solches Ausmass annehmen wird. Der Mann meiner Schwester hatte zuvor immer mal davor gewarnt, dass es erneut einen Krieg geben würde. Wir sollten uns darauf vorbereiten. Ihm war das Gefühl bereits bekannt, als 2014 Russland den Donbass einnahm. Hätte ich mehr über seine Worte nachgedacht, wäre ich wohl besser vorbereitet gewesen.
Am 24. Februar wurden die Menschen in zwei Lager aufgeteilt – einige standen Schlange für Brot und gerieten in Panik, während andere sich freiwillig zum Helfen meldeten. Sie wollten wirklich helfen. In der U-Bahn waren die Gesichter der Menschen steinern, keine Emotionen. Nichts. Als wären alle Zombies.
Ich denke, nach dem Krieg werde ich in mein früheres Leben zurückkehren können, obwohl es mir aus mehreren Gründen psychisch gerade nicht so gut geht. Am meisten belasten mich die Beschüsse und dann die Erinnerungen an meine Heimatstadt, meine Familie, alles, was da war und nicht mehr ist. Das hinterlässt tiefe Spuren im Gemütszustand und muss ich aufarbeiten. Denn das Leben ist zu kurz.
«In diesem Jahr haben meine Hände zu zittern begonnen.»
In diesem Jahr haben meine Hände zu zittern begonnen und ich habe Angstzustände entwickelt. Ich versuche mein Gehirn zu kontrollieren, aber mein Körper ist kaum kontrollierbar. Jedes Mal wird es schwieriger. Ich schlucke Beruhigungsmittel, weil nicht klar ist, was morgen oder in einer Woche sein wird.
Ich hoffe, dass die Ukraine die 1991 festgelegten Grenzen wieder herstellen kann. Wir wollen, dass die Besatzer gehen und diejenigen zurückkommen, die von hier gegangen sind. Wir werden alles wieder aufbauen und auch die Korruption bekämpfen.
Wenn wir das schaffen, dann wird definitiv alles gut. Denn wir sind eine sehr coole Nation und wir sind sehr coole Leute. Dafür werden wir alles tun.
Julia* (26), aus Sjewjerodonezk, wohnt aktuell in Dnepr (Ukraine)
Am 24. Februar weckte mich mein Mann, er hatte ein Video auf seinem Handy. In dem sprach Putin über den Beginn einer speziellen Militäroperation.
Ich habe damals nicht verstanden, dass das alles so beängstigend sein würde. Ich konnte es nicht glauben. Mein Mann arbeitet bei der Polizei. Er schaute zuvor ständig die Nachrichten und sagte, dass es bald beginnen würde.
Zuerst fielen sie in den Flughafen ein, dann erreichten sie die Stadt Rubizhne in der Region Luhansk. Und dann begann ein sehr schwerer Beschuss auf unsere Stadt Sjewjerodonezk.
«Sie sagten uns, wir dürfen kein Brot mehr ins Nachbarsdorf liefern, dort wehte bereits die russische Flagge.»
Bis zum 5. März konnte ich noch in der Bäckerei arbeiten. Auf dem Weg zur Arbeit kam ich an zerbommten Häusern vorbei, auf der Strasse lagen Schuhe zerstreut, an denen Blut klebte. Da sagten sie uns, dass wir das Brot nicht mehr ins Nachbardorf liefern dürfen, dort wehte bereits die russische Flagge.
Wenn der Krieg vorbei ist, dann kann ich mir schon vorstellen nach Sjewjerodonezk zurückzukehren, aber nur wenn keine Menschen mehr dort leben, die Russland positiv gestimmt sind.
In der Stadt Dnepr haben wir Probleme mit den Luftschutzkellern, deshalb bleibt mir bei einem Beschuss nichts anderes übrig, als in die Luftverteidigung zu vertrauen. Aber ich weiss auch, ist eine Rakete bereits abgeschossen, dass mir kaum Zeit bleibt zu entkommen.
*Die vier jungen Frauen heissen in Wirklichkeit anders. Aus Schutz hat blue News ihnen andere Namen gegeben.