Lagebild Ukraine Darum hat Kiew Cherson nicht schon längst erobert

Von Philipp Dahm

8.11.2022

Selenskyj spricht von «hunderten» getöteten Russen pro Tag

Selenskyj spricht von «hunderten» getöteten Russen pro Tag

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht Fortschritte im Kampf gegen die russischen Streitkräfte – auch dank einer verstärkten Luftabwehr. Täglich würden hunderte russische Soldaten bei den Kämpfen getötet, sagte Selenskyj in seiner näc

08.11.2022

Russland macht in Cherson einen Rückzug vom Rückzug, während die ukrainische Armee nicht in die Falle tappen will: Der Kampf um die Grossstadt im Süden könnte sich über den ganzen Winter hinziehen.

Von Philipp Dahm

8.11.2022

Ja, was denn nun? Hiess es nicht vor wenigen Tagen, die Russen würden Cherson räumen? Sagte nicht Moskaus Statthalter, nicht nur Zivilisten, sondern auch die Armee werde abziehen? Warum ist die Grossstadt nicht schon in ukrainischen Händen?

Das ist dann doch zu einfach – werden sich die Generäle in Kiew gedacht haben: Das Ganze scheint nach einer Falle zu riechen, und Moskaus Mann in Cherson rudert dann auch bald zurück: Kirill Stremousow behauptet schnell, nur Zivilisten würden evakuiert, was Wladimir Putin bald darauf öffentlich bestätigt.

Die ukrainische Armee traut der Sache jedenfalls nicht über den Weg, wie ein Kommandeur an der Front «Al Jazeera» sagt: Seine Truppen sollten in die Irre geführt werden und würden in Cherson schon erwartet. In Kiew feixt Verteidigungsminister Oleksij Resnikow bloss, Putin wolle sich vielleicht wieder «aus gutem Willen» zurückziehen. So war die Räumung der Schlangeninsel begründet worden.

Cherson – alles unklar

Klar ist also derzeit bloss, dass nichts klar ist. Richard Barrons sieht mehrere mögliche Szenarien: «Einige denken, die Russen bleiben und kämpfen, was eine blutige Angelegenheit wäre», zählt der britische Ex-General im «Times Radio» auf. «Oder die Russen ziehen ukrainische Kräfte hinein und ziehen sich über den Fluss zurück, wenn sie genug Schaden angerichtet haben.»

Karte: Institute for the Study of War

Es handele sich um ein grosses, urbanes Gebiet, das gut befestigt sei, und der Kampf könne sich noch den ganzen Winter über hinziehen, so Barrrons. Fortschritte würden ausserdem durch nasses Herbstwetter und fehlenden Nachschub an Munition und Personal erschwert. «Beide Seiten sind zu diesem Zeitpunkt ehrlich gesagt ein bisschen erschöpft.»

Die russische Seite will am gestrigen 7. November die Evakuierung der Gebiete westlich des Dnjepr abgeschlossen haben. Gleichzeitig will die russische Armee ukrainische Offensiven im Oblast Cheron zurückgeschlagen haben, meldet das Verteidigungsministerium via Telegram. Die ukrainische Seite meldet dagegen, sie habe russische Truppenkonzentrationen unter Artilleriebeschuss genommen.

Donezk: Dementi mit Seltenheitswert

Geolokalisierte Bilder beweisen laut dem Washingtoner Institute for the Study of War (ISW), dass die Ukraine das Dorf Pawliwka am 4. November halten kann. Das ist deshalb von Belang, weil sich zuvor Militärs in einem offenen Brief beim Verteidigungsministerium offiziell über die Vorkommnisse dort beschwert haben.

Mindestens 300 Soldaten sollen hier demnach ums Leben gekommen sein, als sie hier in die Linien der Verteidiger getrieben worden sein sollen. Ungewöhnlich sei, dass das Verteidigungsministerium am 7. November dazu Stellung genommen habe, schreibt das ISW. Die Verluste seien übertrieben worden, der Brief sei womöglich vom ukrainischen Geheimdienst verfasst.

Dass das Ministerium reagiere, weise darauf hin, dass die Lage vor Ort tatsächlich brenzlig sei. Weiter im Norden soll die russische Armee bei Bachmut Boden gutgemacht und zwei Dörfer unter Kontrolle gebracht haben.

Stärkung der Luftabwehr und der Luftwaffe

In Charkiw versuchen offenbar beide Parteien ohne Erfolg, an der Front zwischen Swatowe und Kreminna vorzurücken. Noch liegen die Temperaturen hier nachts über dem Gefrierpunkt, was sich kommende Woche ändern wird.

Angesichts von so viel Stillstand kann sich die Ukraine über weitere westliche Waffenhilfe freuen. Zusätzliche Flugabwehr-Systeme vom Typ Nasams und Aspide haben das Schlachtfeld erreicht und werden helfen, russische Raketen abzufangen. Die Aspide kommt aus Italien und verschiesst Mittelstrecken-Raketen ähnlich der AIM-7 Sparrow.

Die Luftabwehr hat ausserdem bestehende Systeme aus Sowjetzeiten aufgerüstet und verbessert, berichtet «Forbes». Das kommt auch dem Schutz der eigenen Luftwaffe zugute, die nun vermehrt ihre älteren Su-24-Fencer-Jets aus dem Arsenal holt. Sie soll noch über 51 Exemplare verfügen, weiss abermals «Forbes».

Die Su-24 soll mit polnischer Hilfe nun neue Schlagkraft bekommen: Warschau rüstet die Bomber angeblich so um, dass sie Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow alias Scalp verschiessen kann. Sie können eine Sprengladung von 1,3 Tonnen über eine Reichweite von über 500 Kilometer transportieren, sind schwer vom Radar zu erfassen und kosten zwischen 800'000 und 1,1 Millionen Euro pro Stück.