Flucht oder BestechungWarum Tausende junge Ukrainer nicht kämpfen wollen
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28.8.2023
Nicht nur die Brutalität des Krieges schreckt sie ab: Tausende junge Männer versuchen, dem Wehrdienst für die ukrainische Armee zu entgehen. Viele verlassen das Land. Wer Geld hat, besticht einen Offizier.
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28.08.2023, 00:00
28.08.2023, 07:51
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die ukrainische Armee hat Schwierigkeiten, geügend Soldaten zu rekrutieren.
Laut einem Medienbericht tauschen sich junge Männer in riesigen Chatgruppen darüber aus, wie sie dem Wehrdienst entgehen können.
Die ukrainischen Behörden versuchen, das Vertrauen wieder herzustellen.
Seit nunmehr anderthalb Jahren widersteht die Ukraine dem brutalen Angriffskrieg von Wladimir Putin. Doch trotz bewundernswerter Willenskraft und Waffenlieferungen aus dem Westen hat Kiew ein Problem, das so alt ist wie der Krieg selbst: Es fehlt an Personal.
Das Land steht vor drastischen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Soldaten, wie es in einem Bericht der BBC heisst. Demnach reiche die Zahl der Freiwilligen nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Der Kampf gegen die russischen Truppen erfordere fortlaufend die Ablösung Tausender Gefallener und Verletzter. Ausserdem würden viele Veteranen nach 18 Monaten erschöpft das Militär verlassen.
Flucht über die Karpaten
Hinzu kommt: Nicht wenige Männer kehren dem Land den Rücken, indem sie Beamte bestechen oder der Einberufung anderweitig entgehen. Dem Bericht zufolge versuchen Tausende Ukrainer, das Land zu verlassen, oftmals über die Karpaten Richtung Rumänien.
Mangelnder Patriotismus ist dabei eher nicht das Problem. Doch der Wehrdienst insgesamt werde als veraltet und korruptionsanfällig kritisiert. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat aufgrund massiver Vorwürfe bereits Rekrutierungschefs im ganzen Land ablösen lassen.
So wurde einem Wehrdienstleiter in Odessa kürzlich vorgeworfen, Autos sowie Immobilien an der spanischen Südküste für Millionen von Dollar gekauft zu haben. Der BBC erklärten Beamte des Verteidigungsministeriums, die Vergehen seien «beschämend und inakzeptabel».
Harte Taktiken schrecken junge Männer ab
Während die Behörden versuchen, das Vertrauen wiederherzustellen, tauschen sich Tausende von Wehrpflichtigen in Telegramm-Gruppen darüber aus, wie sie der Einberufung entgehen können. Dort würden etwa Hinweise darauf gegeben, wo Wehrdienstleistende patrouillierten. Manche der Gruppenchats haben der BBC zufolge mehr als 100'000 Mitglieder.
Auch die vielen Berichte über harte Taktiken und unangemessene Ausbildungszeiten schreckten viele junge Männer ab, die ihr Leben noch vor sich haben.
Einer von Ihnen ist Yehor (Name geändert). Der junge Mann war kürzlich in einem Rekrutierungszentrum aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung, konnte aber aufgrund von Rückenproblemen zunächst wieder heimgehen.
Er kritisiert gegenüber dem britischen TV-Sender das System und beklagt, dass persönliche Umstände nicht berücksichtigt würden.
«Das System ist sehr veraltet», sagt Yehor. Ausserdem habe er selbst miterlebt, wie schlimm sein Vater an psychischen Problemen gelitten habe, nachdem er mit der Sowjetarmee in Afghanistan gekämpft hatte. Er wolle deshalb nicht in den Krieg ziehen.
Ausbildung ukrainischer Soldaten bekommt neuen Fokus
Mündungsfeuer blitzt über den Truppenübungsplatz Klietz westlich von Berlin. Hier werden ukrainische Soldaten an Leopard-Panzern trainiert. An diesem Donnerstag steht unter anderem das Abfeuern von 105-mm-Geschossen mit dem Leopard-1 auf dem Programm. 18 Monate nach Beginn des Krieges haben sich die Anforderungen der Ukraine an die Ausbildung ihrer Streitkräfte im Ausland geändert.
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«Es ist in Ordnung, Angst zu haben»
Eine ukrainische Informationskampagne mit dem Slogan «Es ist in Ordnung, Angst zu haben» soll nun Verständnis für die Ängste der jungen Männer schaffen und sie zum Kriegsdienst anspornen.
Einen Beitrag leisten will auch Yehor, trotz seiner Wehrdienstverweigerung: Vor der russischen Invasion wurde Männern, die keinen Militärdienst leisten wollten, in der Regel eine Alternative angeboten, etwa Arbeit in der Landwirtschaft oder im sozialen Bereich. Mit der Ausrufung des Kriegsrechts im letzten Jahr wurde diese Möglichkeit jedoch abgeschafft.
Die Verweigerung des Wehrdienstes in keine Kleinigkeit. Wer veruteilt wird, muss mit empfindlichen Geldstrafen oder sogar bis zu drei Jahren Gefängnis rechnen.
«Jeder sollte die Möglichkeit haben, seinen Beitrag zu diesem Krieg zu leisten, wenn seine Situation berücksichtigt wird», sagt Yehor und fügt hinzu: «Die Menschen, die an der Front sind, tun mir leid, aber eine pazifistische Alternative habe ich nicht.»