Mitreden können Was geht in Hongkong überhaupt vor sich? Fünf Fragen und Antworten

Von Philipp Dahm

2.7.2019

Wieso gibt es Auslieferungsgesetze (und Proteste dagegen), wenn Hongkong doch in China liegt? Fühlen sich die Bewohner als Chinesen? Und worüber gibt es gerade Streit? Hier ist der Stand der Dinge.

Wieso hat Hongkong in China einen Sonderstatus?

Hongkongs Geschichte beginnt mit Drogen: Die britische East India Company ist zwischen 1830 und 1840 der grösste Dealer der Welt. London exportiert im grossen Stil Opium nach China, um das Handelsdefizit auszugleichen. Dieses entsteht, weil Grossbritannien zuvor Tee, Seide und Porzellan aus China ausführt, dem Markt dort aber selbst nichts zu bieten hat. Als Peking Opium verbietet, kommt es 1939 zum Ersten Opiumkrieg, der drei Jahre dauert.

Das unterlegene China muss seine Märkte öffnen und tritt Hongkong Island auf ewig an die Krone ab. 1860 und 1898 kommen weitere Gebiete hinzu, die London bis 1997 von China «pachtet» – obwohl dabei gar kein Geld fliesst. 1982 beginnen London und Peking über die Zukunft Hongkongs zu verhandeln: Die KP erreicht mit dem Motto «Ein Land, zwei Systeme» die Rückgabe des Gebiets, das anschliessend eine Sonderwirtschaftszone sein soll. Nach 156 Jahren britischer Herrschaft werden am 1. Juli 1997 chinesische Flaggen über der Metropole gehisst.

Welches politische System hat Hongkong heute?

Das Konzept «Ein Land, zwei Systeme» sichert Hongkong 50 Jahre lang einen Sonderstatus zu – er soll eine demokratische, marktwirtschaftlich orientierte Verwaltung erlauben. Die Autonomie beinhaltet das Recht, eigene Gesetze zu erlassen und eigenes Geld zu drucken. Gesetze gibt der Hongkonger Legislativrat vor, der zur Hälfte in den Bezirken gewählt wird und zur anderen Hälfte von Branchen wie dem Finanzsektor, der Gastronomie oder von Fluggesellschaften ausgesucht wird. Das Wahlgesetz stammt noch aus britischer Besatzungszeit, das Hongkonger Grundgesetz (Hongkong Basic Law) tritt 1997 inkraft. Ein Vorstoss im Jahr 2017, das Wahlgesetz zu ändern, scheiterte an lokalem Widerstand.

Wie stehen die Bewohner von Hongkong zu China?

Für die Einwohner sind China und Hongkong zwei Paar Schuhe: Obwohl mehr als 90 Prozent der Menschen ethnisch chinesisch sind, ergaben Umfragen der örtlichen Universität, dass sich nur 15 Prozent von ihnen auch als «Chinesen» bezeichnen. Der Grossteil sieht sich als «Honkonger». Dieser Trend ist bei den jungen Leuten noch ausgeprägter: Bei den 18- bis 29-Jährigen identifizieren sich nur drei Prozent mit China. Die im Jahr 2017 Befragten gaben vor allem soziale und kulturelle Unterschiede als Grund an, dass sie sich nicht als Teil des Reichs der Mitte sehen: 156 Jahre britische Herrschaft haben Spuren im kollektiven Gedächtnis der Stadt hinterlassen.

Was ist der Grund für die aktuellen Proteste?

Anti-WTO-Protest in Hoongkong 2005.
Anti-WTO-Protest in Hoongkong 2005.
Bild: Keystone

Ziviler Protest hat eine gewisse Tradition in Hongkong. Die jüngsten Demonstrationen richten sich gegen ein geplantes Gesetz über die Auslieferung von Straftätern nach China. Während in der Stadt beispielsweise die Freiheit der Rede garantiert wird, könnte das Gesetz dafür sorgen, dass China-Kritiker unter fadenscheinigen Gründen verhaftet, ausgeliefert und dort für das Kundtun ihrer Ansichten vor Gericht gestellt werden.

Regenschirm als Marknzeichen: Demonstrationen 2014.
Regenschirm als Marknzeichen: Demonstrationen 2014.
Keystone

Zwar soll das Gesetz nur Straftaten wie Mord oder Vergewaltigung betreffen, aber niemand glaubt Pekings Juristen, dass es dabei auch bleiben würde – zumal ein Gremium von Fall zu Fall entscheiden soll. Rund zwei Millionen Demonstranten sorgen dann Mitte Juni dafür, dass die Stadtchefin Carrie Lam das Gesetz auf Eis legt. Weil das vielen Menschen nicht reicht und sie den Entwurf ganz vom Tisch haben wollen, gehen die Proteste weiter.

Gleichzeitig polarisiert die Lage die Hongkonger zusehends: Nachdem die Polizei für den Einsatz von Gummischrot und Tränengas bei einer Demonstration gegen die Regierung am 12. Juni kritisiert wurde, formieren sich pro-Polizei-Demonstrationen von zumeist älteren Bürgern. Hier muss die Polizei dann regierungskritische, junge Demonstranten schützen – die Situation spitzt sich zu.

Proteste in Hongkong am 12. Juni:

Welche Haltung nimmt Peking ein?

China fordert neue Gesetze wegen der Ermordung einer 20-Jährigen durch ihren 19-jährigen Freund in Taiwan. Als der mutmassliche Täter in Hongkong verhaftet wird, kann er nicht ausgeliefert werden, weil Hongkong kein entsprechendes Abkommen mit Taiwan (und China) hat.

Das «Ein Land, zwei Systeme»-Schema ist Peking ein Dorn im Auge, weil die Hongkonger China vorführen und weil Proteste etwa gegen das Tiananmen-Massaker in Hongkong erlaubt sind. Diese könnten womöglich aufs Festland ausstrahlen könnten. Wie angespannt die Nerven sind, zeigt die Verleihung der «asiatischen Grammys»: Die Übertragung der Taiwan Golden Melody Awards wurde am Montag von Zensoren jäh unterbrochen, als Moderator Jen Chiang-da auf der Bühne sagt: «Hongkong, add oil».

1989: Hongkong demosntriert gegen das Tiananmen-Massaker in Peking.
1989: Hongkong demosntriert gegen das Tiananmen-Massaker in Peking.
Keystone

Der Begriff «add oil» ist Hongkonger Englisch und meint so viel wie «bleibt dran». Die Propaganda achtet also peinlich genau darauf, nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu giessen. Aber das Grundproblem bleibt: Taiwan und Hongkong einerseits einen Sonderstatus zu gewähren und die Gebiete andererseits auf Linie zu halten, ist ein politischer Spagat.

2047 endet der Sonderstatus Hongkongs – doch die Kommunistische Partei (KP) wird wohl nicht so lange warten, bis sie wieder die volle Kontrolle über die Metropole hat. Vielleicht wartet China nur auf den richtigen Augenblick, um in den Sonderzonen durchzugreifen: Wenn die Welt von einem anderen Konflikt abgelenkt werden würde, könnte Peking in diesem Windschatten Fakten schaffen.

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