Fall Protassewitsch Was wusste Putin?

Von Philipp Dahm

27.5.2021

Eng wie Lolek und Bolek: die Präsidenten Putin (links) und Lukaschenko am 22. Februar 2021 in einem Schwarzmeer-Resort im russischen Sotschi.
Eng wie Lolek und Bolek: die Präsidenten Putin (links) und Lukaschenko am 22. Februar 2021 in einem Schwarzmeer-Resort im russischen Sotschi.
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Die Verhaftung des Bloggers Roman Protassewitsch in Minsk wirft die Frage nach der Rolle Russlands auf und droht, das Verhältnis zwischen Ost und West weiter zu belasten.

Von Philipp Dahm

27.5.2021

Der britische Aussenminister sprach aus, was viele denken. «Es ist schwer zu glauben», sagte Dominic Raab am Montag im Parlament über die Zwangslandung des Ryanair-Fluges 4978 in Minsk, «dass so etwas stattgefunden haben könnte ohne zumindest die Duldung der Behörden in Moskau».

Später legte der 47-jährige Konservative zwar noch nach, dass es keinerlei Beweise dafür gebe und seine Aussage nur darauf beruhte, dass Moskau und Minsk so eng sind wie Ursus & Nadeschkin, wie Pat und Patachon, oder besser: wie Lolek und Bolek sind. Tatsächlich kann sich Alexander Lukaschenko nur deshalb an der Macht halten, weil Wladimir Putin ihm Rückendeckung gibt.

Die Frage muss also erlaubt sein: Was wusste der Kreml über die Entführung des Flugzeugs? Die Antwort darauf ist nicht eindeutig, doch Fakt ist, dass Moskau Verständnis für Minsk hat. «Ich denke, das ist ein absolut vernünftiger Ansatz», nannte Aussenminister Sergei Lawrow den Vorfall. Belarus habe «internationale Regeln» befolgt: Nun müsse die Weltgemeinschaft «die Situation nüchtern analysieren».

Staatsfeind: Verhaftung von Roman Protassewitch bei einer Demonstration in Minsk im März 2017.
Staatsfeind: Verhaftung von Roman Protassewitch bei einer Demonstration in Minsk im März 2017.
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Auf anderen Kreml-Kanälen tönt das jedoch weniger diplomatisch. Etwa bei der Sprecherin von Lawrows Aussenministerium: Marija Sacharowa zeigte sich auf Facebook «schockiert» von der Doppelmoral des Westens. «Das Internet vergisst keinen Fall von gewalttätiger Entführung, erzwungenen Landungen und illegalen Verhaftungen, die von den ‹Friedensrichtern und Moralwächtern› durchgeführt worden sind», schrieb sie.

«Jetzt bin ich neidisch, Batka»

Sie spielt damit etwa auf die forcierte Landung von Boliviens damaligen Präsidenten 2013 an. Weil Whistleblower Edward Snowden an Bord von Evo Morales' Maschine vermutet wurde, zwang der Westen das Flugzeug zum Stopp in Wien. Der gesuchte Amerikaner war allerdings nicht an Bord. Der Vorfall sorgte in Südamerika für einen Aufschrei und ging im Westen dagegen eher unter.

Eine andere Stimme, die gehört wird, ist die von Margarita Simonjan, ihres Zeichens Chefredaktorin der Staatssender Russia Today und Sputnik. Und diese Stimme war laut und klar: Die 41-Jährige twitterte, sie hätte nie gedacht, dass sie mal neidisch auf Belarus sein würde. «Jetzt bin ich neidisch, Batka.» Batka ist ein Kosename von Präsident Lukaschenko. Im TV legte Simonjan nach: «Toller Job. So macht man das!»

Polizisten gegen Demonstranten am 1. November 2020 in Minsk.
Polizisten gegen Demonstranten am 1. November 2020 in Minsk.
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Social-Media- und Medien-Kommentare sind das eine, Fakten das andere. Putin ist die Lebensversicherung von Lukaschenko: Als im Herbst die Proteste gegen die Regierung in Minsk immer grösser wurden, hat der weissrussischen Präsident den Amtskollegen um Hilfe gebeten und diese auch bekommen.

Geheimdienst-Hilfe gegen Oppositionelle

Zum einen durch geheimdienstliche Unterstützung, zum anderen durch Propaganda auf Russia Today und Sputnik, berichtete «Business Insider». In jener Zeit wurde Roman Pratassewitsch beschuldigt, Massenunruhen angezettelt zu haben. Der weissrussische Geheimdienst KGB führt ihn seit November 2020 als Terrorist.

Kein Wunder also, dass Köpfe wie Yale-Professor Timothy Snyder sich nicht vorstellen können, dass Russland vom geplanten Grounding nichts gewusst hat. Der Osteuropa-Spezialist spekuliert, dass absehbare Sanktionen des Westens Belarus weiter in die Arme Moskaus treiben könnten.

Dem früheren britischen Botschafter in Belarus geht das zu weit: Dass Russland die Aktion abgesegnet oder unterstützt habe, könne sein, aber dass der Kreml das Ganze initiiert hat, mag er nicht glauben.

Fazit

Unser Überblick zeigt: Was die Rolle Russlands im Fall Protassewitsch angeht, gibt es viele Spekulationen, aber wenig Fakten. Diejenigen, die in Moskau aggressiv kommunizieren, sind nur semioffizielle Stimmen, sodass man Putin keinen Vorwurf machen kann. Einerseits.

Andererseits passt genau diese Asymmetrie zu Moskaus aussenpolitischem Kurs der letzten Jahre, als die Krim von irregulären Truppen im Handstreich genommen wurde und die USA Russland bei Wahl-Manipulationen und Hacker-Attacken erwischt haben.

Hypothese hin, Spekulation her: Licht wird erst dann in die Sache kommen, wenn die beteiligten Mächte oder die Geheimdienste Details präsentieren. Vielleicht wird es ja in rund drei Wochen neue Erkenntnisse geben, wenn Joe Biden in Genf auf Wladimir Putin trifft.

Es wäre auch Roman Protassewitsch und dessen Freundin zu wünschen, dass der Fall international nicht in Vergessenheit gerät. Seine Eltern haben heute in Warschau eine Pressekonferenz gegeben. Sie wissen nicht, wo ihr Sohn ist. «Bitte hört den Schrei meines Herzens», sagte Natalia Protassewitsch unter Tränen. «Es ist eine schreckliche Situation, in der wir stecken.»

Natalia Protassewitsch heute in Warschau bei einer Pressekonferenz.
Natalia Protassewitsch heute in Warschau bei einer Pressekonferenz.
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