Unwissen und Twitter-HämeWenn Briten beim Skifahren in der Schweiz das Brexit-Problem lösen
Philipp Dahm
27.2.2019
Da lachen sogar die Deutschen: Eine Figur für den Kölner Karneval suggeriert, dass sich der Brite mit dem Brexit ins eigene Fleisch schneidet.
Bild: Keystone
Die Scheidung von Brüssel sei kein Problem, melden prominente Briten aus den Schweiz-Ferien. Auf Skipisten zeige sich, dass so eine EU-Grenze kein Beinbruch sei. Auf Twitter löst das gleich mehrere Lawinen aus.
Aus Gründen hier die Bildergallerie «Bizarres Britannien»:
Bizarres Britannien – So verrückt geht es auf der Insel zu
Die spinnen, die Briten? Urteilt man nach den Bildern von Chris Porsz kann man dem nur zustimmen ...
Bild: Dukas
Der Amateurfotograf reiste achte Jahre lang durch Grossbritannien und dokumentierte den Alltag seiner Mitmenschen. Heraus kam der Bildband «Streets of Britain».
Bild: Dukas
Die Fotoserie zeigt die eher ungewöhnlichen Momente, so wie hier in Newcastle. Oder ist das vielleicht die Normalität?
Bild: Dukas
Denn wie es scheint, geht es auf der Insel überaus bizarr zu. Strassenszene aus Newcastle.
Bild: Dukas
Die Briten scheinen sich überhaupt sehr gern zu verkleiden ...
Bild: Dukas
... und haben überaus eigenartige Hobbies, so wie dieser Herr in Blackpool.
Bild: Dukas
Es gibt aber auch Vertrautes: Mit dem allseits präsenten Regen muss man umgehen lernen, so wie hier in Brighton.
Bild: Dukas
Ein ebenso bekanntes Bild: Die unerträgliche Leichtigkeit der britischen Schlägerei, hier in Belfast.
Bild: Dukas
Doch Grossbritannien ist natürlich auch bunt und wild und multikuturell.
Bild: Dukas
Problemchen gibt es auch abseits des Brexit so einige ...
Bild: Dukas
... nur unterkriegen lässt man sich davon nicht.
Bild: Dukas
«Es hätten zumindest einmal 48 Stunden vergehen können, bevor sich schon wieder ein Brexit-Befürworter dazu entschliesst, dass eigene Unwissen über die Schweizer Grenze zur Schau zu stellen», ätzt «Indy 100», ein Ableger des britischen «Independent». Gemeint ist der Parlamentarier Sir Bernard Christison Jenkin, der sich im britischen TV am Montag übel abkanzeln lassen musste. Doch der Reihe nach.
Im allgemeinen Brexit-Taumel musste die Schweiz zuletzt immer wieder als Beispiel dafür dienen, dass eine EU-Grenze gar nicht so schlimm sei. Viele Briten sind diese Diskussion leid, wie man aus den Reaktionen auf den jüngsten Schweiz-Verweisen von Vertretern der Presse, Politik und Prominenz schliessen kann, die zuvor ihr Öl ins Brexit-Feuer gegossen haben. Den Auftakt macht Quentin Letts, seines Zeichens provokanter Journalist – und dazu noch Theaterkritiker.
Quentin Letts kommt von der Piste ab
Dass sich zuhause niemand vor dem Brexit fürchten müsse, meldet der Autor von Büchern wie «Patronising Bastards: How The Elites Betrayed Britain» und «50 People Who Buggered Up Britain» seinen Landsleuten ausgerechnet aus den Ferien in den fernen Alpen. «Bin gerade auf Skiern von der EU in die unabhängige Schweiz gefahren. Wie infam: keine harte Grenze. Nicht mal eine Linie im Schnee», twitterte der 56-Jährige.
Yes, this is because Switzerland is part of Schengen which means It adheres to EU freedom of movement rules. However if you were crossing with a lorry full of goods it would be a different story. Explanation is here on the Swiss gov website: https://t.co/OGg5LwaiJHhttps://t.co/TdmrsavWSf
Oh sweet lord, that's because of the Schengen agreement - isn't journalism meant to involve just a little bit of research? I should not have to explain the basics of your job to you..
You weren’t driving a lorry full of cattle or insulin were you? Here’s what the border looks like for proper crossings. Don’t be so smug about something so serious if you don’t understand it..... pic.twitter.com/biQpEmv3Cf
Kluge Köpfe korrigieren, dass es auf Schweizer Pisten mitunter sehr wohl Kontrollen gebe – und dass mit der Grenzwacht nicht zu spassen sei:
But there are hard borders where roads cross the border eg at Geneva between France & Switzerland & further east between Switzerland & Austria - the works, armed patrols & customs posts
Here in fact is the clearly labelled customs check point between France and Switzerland at the bottom of the Mosettes ski lift which takes skiers from France to Switzerland. You’re welcome Quentin. pic.twitter.com/xFBeCoP1xw
Eine Woche später erwischt es in den Schweizer Skiferien dann eine Kollegin von Quentin Letts: Julia Hartley-Brewer, 50, Radio-Star und Kolumnistin, berichtet vom Grenzwechsel in unter 20 Sekunden. Hashtag: #justsaying.
... and now I’m in Switzerland. I reckon that took all of 20 seconds. #justsaying
Niemand mag Besserwisser – und Journalisten hatten auch schon einen besseren Ruf. Die Kombination aus beiden stachelt die Twitter-User aber besonders an:
Another Leaver who doesn't understand The Schengen Agreement!
And let’s not forget that, even though there’s an agreement, if you’re importing goods here (Switzerland) it frequently gets stuck at the border if the tiniest thing is wrong with the reams of paperwork (for which you need a customs agent).
Hertley-Brewer versucht noch, zu retten, was nicht zu retten ist. Ihre Argumentation ist allerdings so gradlinig wie die Abfahrt eines Aprés-Ski-Fanatikers. Sie geht zusammengefasst so: Ja, ich weiss, die Schweiz gehört zum Schengen-Raum. Und Britannien im Gegensatz dazu nicht. Auch nach dem Brexit nicht. Darum: kein Schengen!
And, yes, I know Switzerland is in Schengen. But we aren’t now, and we won’t be after Brexit, so why does anything have to change if the British and EU leaders are sensible and agree that it doesn’t need to?
Den dritten im Bunde haben wir ja bereits erwähnt: Bernard Jenkin. Der Tory-Parlamentarier hat ausgerechnet im Fernsehen versucht, mit halbgarem Schweiz-Schwurbel Stimmung zu machen. «Sky News»-Moderator Adam Boulton lässt sich jedoch nicht für dumm verkaufen.
Bernard Jenkin: Politiker ohne Ahnung? Kann das sein???
Er fragt, warum Jenkin den Austritt befürwortet. «Das Land bekommt [im Gegenzug] Demokratie, Berechenbarkeit und Freiheit. Die meisten Staaten sind ja nicht in der EU. Schauen Sie sich um, denen gehts es total gut», rechtfertig sich der «Brexiteer». Der 59-Jährige lässt sich gar zu der Behauptung hinreissen: «Man muss nicht in der EU sein, um in Europa zu sein. Australien, Kanada, Singapur und der Schweiz geht es gut.»
Der Moderator schiesst zurück: «Dann müssen wir wohl in Richtung Pazifik schwimmen, oder?» Jenkin bleibt stur: «Der Schweiz und Norwegen geht es gut.» Boulton kontert: «Die Schweiz hat ja aber nunmal eine Grenze zur EU – auch wenn viele ihrer Kollegen viel von ihrer Zeit darazuf verwenden, zu leugnen, dass sie existiert.»
Und Jenkin? Macht schon wieder den alten Fehler! «Nun ja, man kann bei der Grenze einfach durchfahren.» Boulton verneint: «Nicht, wenn man einen LKW fährt.» Jenkins unbeirrbar: «Stimmt nicht. Es gibt jede Menge Strassen, auf denen man einfach durchfahren kann.» Warum das zu kurz greift, müssen dann die Twitter-User dem Politiker erklären
PLUS Switzerland is in Schengen!Slight difference. Such a shame so few UK politicians and hardly any journalists - actually NO BBC journalists - know any real facts at all about European borders.If anyone wants to understand the situation regarding lorries they should go to BASEL
@adamboultonSKY keeps asking them what the UK will gain from Brexit and, in particular, from No Deal. A very pertinent question which no-one from the Evil Rubbish Gang has given a satisfactory answer to.
And Norway is fine because it has a deal with the EU, which guarantees free movement and services and allows FoM, the very thing Brexiteers loathe. How do they get away with so much bullshit?!
Tatsächlich ist Brexit-Materie für das Volk schwer zu verstehen und auch für dessen Vertreter zum Teil wohl zu kompliziert. In «Last Week Tonight» hat TV-Satiriker John Oliver den Amerikanern zuletzt den Brexit erklärt. Er endet mit diesen Worten, denen sich wohl viele Briten anschleissen würden:
«Manchmal weiss man über die Dinge nicht Bescheid. Dann holt man jemanden, der für einen Bescheid weiss. Wenn man mit Magenschmerzen zum Arzt geht und gefragt wird: Was meinen denn Sie? Soll ihr Blinddarm bleiben oder austreten? Man antwortet wahrscheinlich mit: Was fragen Sie mich? Tun Sie ihren verdammten Job! Ein Akt wahren politischen Mutes ist nicht, ein zweites Referendum zu fordern, sondern anzuerkennen, dass die erste Abstimmung fatalerweise voller Fehler war, dass deren Umsetzung das Land auf lange Sicht schädigen würde und den Brexit komplett abzusagen.»
Schade, dass politischer Mut heute im Londoner Parlament nicht zur Wahl steht. Mit Blick auf die aktuelle Abstimmung kann man nur hoffen, dass Quentin Letts, Julia Hertley-Brewer, Bernard Jenkin und auch wir nun etwas gelernt haben:
Erstens ist die Schweiz ein ideales Land, um dort die Skiferien zu verbringen.
Zweitens: Britischer Humor ist so lustig, dass er auch mal wehtut.
Und drittens: Es ist manchmal okay, sich – für einmal – weniger Schweiz-Geschichten zu wünschen – dies natürlich nur in diesem Zusammenhang.
Aber dafür hier nochmal unsere Bilder aus der Schweiz:
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