Helferin berichtet aus Indien «Wenn das Telefon klingelt, könnte wieder jemand gestorben sein»

Von Andreas Fischer

3.5.2021

Die Menschen in Indien sind angesichts der immer schlimmer grassierenden Corona-Pandemie zunehmend hilflos.
Die Menschen in Indien sind angesichts der immer schlimmer grassierenden Corona-Pandemie zunehmend hilflos.
Avishek Das/SOPA Images via ZUMA Wire/dpa

Die Corona-Pandemie hat Indien im Würgegriff. So schrecklich die Bilder und so desaströs die Zahlen sind: Wie es den Menschen in der Katastrophe geht, erzählen sie nicht. «blue News» hat sich vor Ort erkundigt.

Von Andreas Fischer

3.5.2021

«Das Ausmass der Pandemie ist so gigantisch, dass wir jede helfende Hand gebrauchen können»: Sneha Giridhari arbeitet in Indien für die Berner Hilfsorganisation Swissaid. Sie selbst hat gerade eine Corona-Infektion überstanden, in ihrer Familie kommt sie fast täglich mit dem Tod in Berührung. Im per Zoom geführten Interview mit «blue News» erklärt die engagierte Sozialarbeiterin, wie schlimm die Lage wirklich ist.

Zur Person
zVg

Sneha Giridhari arbeitet als Senior Programme Officer für das Koordinationsbüro der Hilfsorganisation Swissaid in Pune. 

Die Nachrichten aus Indien sind derzeit vor allem Hiobsbotschaften …

Sneha Giridhari: Im Vergleich zu dem, was wir gerade erleben, war die erste Welle das Plätschern in einem kleinen Teich. Die Infektionszahlen und Todesfälle waren überschaubar. Jetzt ist es ein Tsunami – mit täglich fast 400'000 Neu-Infektionen und zuletzt knapp 3600 Toten pro Tag. Die Menschen sind mit ihren Kräften am Ende, sie sind emotional schwer getroffen, weil sie den Krieg gegen Corona an vielen Fronten führen müssen. Ihr Kampf startet mit einer Infektion in der Familie, dann finden sie keine Spitalbetten, dann gibt es keinen Sauerstoff. Und am Ende können sie die Leichen nicht einmal ordentlich bestatten.

Die Lage ist also ausweglos?

In meiner Stadt werden kleine Spitäler, Pflegeheime und Entbindungshäuser in Covid-Stationen umgewandelt. Allerdings gibt es dort keine Intensivbetten, keine Beatmungsgeräte, nichts, womit sich das Leben der Patienten retten lässt. Wenn es den Patienten schlechter geht, müssen sich die Verwandten auf eine Odyssee begeben. So wie dieser Ehemann, der mit seiner an schweren Symptomen leidenden Frau in meiner Stadt von Pontius zu Pilatus geschickt wurde: Er wurde von sieben, acht Spitälern weggeschickt, bis er schliesslich weit ausserhalb der Stadt einen Platz fand. Da war es dann aber zu spät, der Zustand seiner Frau hatte sich dramatisch verschlechtert, sie starb am selben Abend.

Wie gehen die Menschen mit diesen Extremsituationen um?

Es ist für sie sehr traumatisch, nichts tun zu können. Oft sterben mehrere Familienmitglieder, der Vater, der Sohn. Dann steht die Familie nicht nur ohne jegliches Einkommen da, die Menschen wissen auch nicht, wie sie die Leichen verbrennen können. Denn mit dem Tod ihrer Angehörigen ist der Kampf noch nicht vorbei: Auch die Krematorien sind komplett überlastet.

Die Menschen stehen mit den Leichen ihrer verstorbenen Angehörigen bis zu 15 Stunden lang Schlange, um sie verbrennen zu können. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als auf die Parkplätze der Krematorien auszuweichen. In einigen Distrikten müssen die Leichen sogar auf privatem Boden verbrannt werden, im Garten hinterm Haus zum Beispiel.

Sie reden sehr engagiert über die allgemeine Lage in Indien: Wie erleben Sie diese Situation persönlich?

Ich weine jeden Tag, und ich weiss nie, welche Hiobsbotschaften mich bei WhatsApp erwarten, wenn ich aufwache. Wenn das Telefon klingelt, könnte wieder jemand gestorben sein, den ich kenne. Gestern erst gab es einen Todesfall in der Familie. Am Freitag, als wir dieses Gespräch ausmachten, war ich gerade dabei, für meinen Cousin einen Platz in einem Spital zu organisieren. Heute muss er verlegt werden, er ist in einem kritischen Zustand, wie mir der Doktor mitteilte. Mittlerweile stirbt fast jeden Tag jemand aus der Bekanntschaft. Das sind nicht mehr nur die alten und kranken Menschen, diesmal scheint es jeden zu treffen. Menschen zwischen 30 und 40 – die sterben einfach.

In der ersten Welle gab es nur ein oder zwei Menschen in meinem Umfeld, die sich infizierten. Dieses Mal haben sich viele meiner Familienmitglieder, Verwandten, Freunde und Nachbarn angesteckt. Es trifft Kollegen und Mitarbeitende. Auch ich selbst wurde im vergangenen Monat positiv getestet, genau wie mein Ehemann, der sogar hospitalisiert werden musste. Ich erhole mich immer noch von meiner Infektion, fühle mich ziemlich schwach und bin eigentlich noch nicht fit genug für lange Arbeitstage.



Trotzdem machen Sie weiter: Wie schaffen Sie das?

Ja, ich höre den ganzen Tag traurige Nachrichten von Freunden, Verwandten und Familie, und natürlich kostet mich das viel Kraft. Dazu kommt die allgemeine Nachrichtenlage mit Berichten von Menschen, die stundenlang nach Sauerstoff anstehen und dann unverrichteter Dinge nach Hause gehen müssen – zu ihren Ehefrauen, die keine Luft mehr bekommen und im Sterben liegen. Aber genau deswegen fühle ich mich verpflichtet, mein Bestes zu geben. Denn immerhin geht es mir besser als vielen anderen. Viel besser.

In welcher Verfassung erleben Sie die Menschen wirklich?

Selbst wenn sie nicht infiziert sind, haben sie ihre ganze Existenz verloren. Viele Menschen haben seit 13, 14 Monaten keinen Lohn mehr bekommen, sie sind verzweifelt und wissen nicht, was sie noch tun können. Corona ist nicht nur eine Gesundheitskrise, es ist auch eine soziale Krise, eine Existenzkrise. Es gibt mehr häusliche Gewalt, die Anzahl der Kinderehen hat stark zugenommen. Immerhin konnten wir 300 Frauen helfen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden und allein im vergangenen Monat 50 Kinderehen verhindern. Die Menschen haben immer häufiger psychische Probleme: Die Unsicherheit ist riesengross, niemand weiss, wie es weitergeht. Die Selbstmordrate steigt.

Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Arbeit in der Hilfsorganisation Swissaid?

Wenn Leute sterben, können wir nicht einfach weitermachen wie bisher. Deswegen haben wir bei Swissaid unsere Arbeit umgestellt. Unsere regulären Projekte können wir zurzeit auch gar nicht in gewohntem Masse umsetzen. Die Menschen, mit denen wir zu häuslicher Gewalt, zu Gleichberechtigung oder zur Existenzsicherung arbeiten, erreichen wir nicht mehr persönlich. Wir haben zusammen mit unseren Partnerorganisationen die Arbeit komplett umstellen müssen, machen viel am Telefon und per Computer. Soweit das überhaupt möglich ist: Denn nicht jeder hat ein Smartphone, nicht überall gibt es eine stabile Internetverbindung.

Sind die Menschen mit ihren Problemen auf sich allein gestellt?

In der Tat haben viele Betroffene niemanden, der ihnen hilft. Aber wir erleben eine grosse Solidarität in den Communitys trotz der allgegenwärtigen Angst vor einer Infektion. Wir haben WhatsApp-Gruppen eingerichtet als eine Art Schwarm-Datenbank, in der Betroffene Informationen bekommen. Andere Gruppen organisieren Care-Pakete und stellen Essen bereit für die Menschen, die gar nichts haben – Wanderarbeiter, Rikscha-Fahrer oder Sex-Arbeiterinnen. Sie alle haben im Moment überhaupt kein Einkommen. Ein grosses Problem ist auch, dass sich viele Menschen nicht testen oder impfen lassen wollen – da leisten andere Freiwillige Aufklärungsarbeit.

Auch Unternehmen helfen: Sie organisieren Sauerstoff und Gerätschaften oder finanzieren Quarantänecamps, die von Freiwilligen eingerichtet werden und die enorm wichtig sind. Es müssen nicht alle Infizierten im Spital behandelt werden, aber sie müssen isoliert werden, um das Virus nicht an ihre Familienangehörigen weiterzugeben. Das Ausmass der Pandemie ist so gigantisch, dass wir jede helfende Hand gebrauchen können.

Macht das Virus einen Unterschied zwischen den Schichten?

Ich würde sagen, mehr als 90 Prozent der Bevölkerung sind von den Folgen der Pandemie betroffen. Das Coronavirus betrifft nicht nur die Armen und Ärmsten der Gesellschaft, es ist in allen Schichten angekommen. Der einzige Unterschied: Die Menschen in der Oberschicht haben grössere Häuser, können sich also zu Hause isolieren.

Die meisten Menschen in Indien aber leben auf engem Raum. Eine Familie aus der Mittelschicht hat oft nur ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer sowie Küche und Bad. Wenn vier oder fünf Personen so eng beieinander leben, kann man sich im Falle einer Infektion nicht isolieren. Von den Verhältnissen in den Slums ganz zu schweigen.

Was glauben Sie, wie lange die derzeitige Ausnahmesituation dauern wird?

Wir hoffen alle auf Besserung, aber im Moment sind die Zeiten sehr düster. Gerade deswegen versuchen wir zu helfen, wo wir können. Bei Swissaid fokussieren wir uns gerade darauf, Nothilfe im medizinischen Bereich zu leisten: Das heisst, wir versorgen die Gesundheitsarbeiter in den Dörfern mit Masken, Desinfektionsmitteln und medizinischen Grundausstattung. Mit mobilen Teststationen hoffen wir, mehr Menschen zu erreichen. Ausserdem wollen wir Quarantänecamps auf dem Land aufbauen, damit sich die Menschen dort testen lassen. Das machen sie nämlich nicht, wenn sie nicht wissen, wohin bei einem positiven Test.

Wie finanzieren Sie die zusätzlichen Aufgaben?

Wir hoffen, dass die Mittel aus dem regulären Budget, die wir im Moment einsetzen, durch Spenden wieder ausgeglichen werden. Jede Rupie zählt. Zumal noch kein Land in Sicht ist. Experten erwarten den Höhepunkt der zweiten Welle erst Mitte Mai. Es wird also zunächst noch schlimmer, und die dritte Welle wird auch schon erwartet.