Tagebuch aus Kiew «Wir sind bereit für die nächsten Raketen-Angriffe»

Von Stefan Michel

28.11.2022

Licht gibt es da, wo Generatoren laufen: Kiew am 23. November, zwei Tage nach den letzten schweren Raketenangriffen Russlands.
Licht gibt es da, wo Generatoren laufen: Kiew am 23. November, zwei Tage nach den letzten schweren Raketenangriffen Russlands.
KEYSTONE / AP Photo/Andrew Kravchenko

Tymofiy Mylovanov war Politiker. Heute leitet er eine Hochschule in Kiew. Seit den jüngsten russischen Angriffen auf die Infrastruktur kämpft er um Strom, Wasser und Wärme, zu Hause und in seiner Schule. Ein Tagebuch.

Von Stefan Michel

Vier Tage bevor Russland in der Ukraine einmarschiert ist, kehrte Tymofiy Mylovanov aus den USA nach Kiew zurück. Er ist Wirtschaftsprofessor und ehemaliger Wirtschaftsminister der Ukraine. 

Während Jahrzehnten beschäftigte sich Mylovanov als Wirtschaftsprofessor und Politiker mit ökonomischen Zusammenhängen. Aktuell kämpft er als Präsident der Kiew School of Economics gegen Kälte und Strommangel. Auf Twitter berichtet er regelmässig vom Krieg, wie er ihn in Kiew erlebt. Seit den jüngsten russischen Raketenangriffen ist der Kampf gegen die Kälte, um Wasser und Strom in den Mittelpunkt gerückt. 

23. November: Die Universität als Ort zum Aufwärmen

Eine kanadische Radiostation habe ihn gefragt, wie er es unter diesen Umständen schaffe, zu führen. Seine Antwort: Wenn er allein sei, weine er. Aber er sei verantwortlich für die Kiew School of Economics, für deren Studierende und Angestellte. Also müsse er aufstehen und vorangehen. 

24. November: Zu Hause ist es kalt

Tag zwei seit dem Kiew-weiten Blackout. Mylovanov berichtet von seinem Zuhause. Es sei kalt, aber solange die Temperatur nicht unter –10 Grad sinke, mache er sich keine Sorgen. «Wir haben etwa 100 Liter Wasser auf Vorrat. Der Schnee auf dem Balkon gibt geschmolzen auch erstaunlich viel her. Das Problem ist: Wir müssen die Balkontür öffnen, um Schnee zu holen, womit wir Wärme verlieren.»

Lebensmittel seien noch nicht knapp. Das Problem sei die Bezahlung, wenn kein Strom fliesse. Viele akzeptierten keien Kreditkarten mehr. «Ich werde Bargeld abheben für den Fall, dass die Telekommunikation oder das Bankensystem zusammenbrechen.»

Mylovanov Fazit nach Tag zwei ist eine Aufzählung von Dingen, die er bestellen müsse: Generatoren, Gasofen, Wasserkanister, Batterien, Essen, Kleider, Starlink und mehr.

25. November: Es gibt Strom! Für kurze Zeit

32 Stunden nach der Attacke gebe es zum ersten Mal wieder Strom. Das bedeute endlich wieder einmal einen heissen Tee. «Etwas, das ich für selbstverständlich gehalten habe, ist jetzt ein grosses Glück.»

Wenig später fällt der Strom wieder aus. Mylovanov borgt sich einen Generator von der Hochschule – er betont, er habe nachgefragt, ob er nicht doch gebraucht werde. Dank des Dieselaggregats kann er ein Zimmer mit einem Elektroofen heizen und batteriebetriebene Geräte aufladen.

26. November: Das Wasser ist zurück

Der Generator auf dem Balkon habe ausser Lärm nicht viel gebracht. Der Elektroofen habe nicht mehr als ein paar Grad Wärme erzeugt. Mylovanov schätzt sich glücklich, in der Hochschule einen warmen Ort zu haben.

Es fliesse wieder Wasser aus den Hahnen, nach 30 Stunden Unterbruch. Mylovanov: «Wir wissen jetzt, was das Starter-Paket für Shutdowns ist: Generatoren, Wasserflaschen und Kanister, um darin Schnee schmelzen zu können.»

Trotz allem finden Vorlesungen und Seminare statt. Der Twitter-Feed der Kiew School of Economics nennt es einen Fun Fact: Viele Menschen mit ungewaschenen Haaren. 

Mylovanov organisiert Schlafsäche für Studierende, die in der Uni übernachten, da es bei ihnen zu kalt oder zu unsicher ist. Ausserdem kaufe er jedes Mal, wenn er einen Supermarkt betrete, Wasser und lagere es überall, zu Hause, im Büro, im Auto. Das Gleiche gelte für Essen und warme Kleider.

Dazwischen arbeite er auch, betont Tymofiy Mylovanov. Zum Beispiel Spendenanlässe für seine Schule. An diesem Tag habe er die Armee beraten, wie sie Spenden sammeln können. Das Foto unten zeigt ein Teil eines bei Kiew abgeschossenen russischen Helikopters, das für mehrere zehntausend Dollar versteigert worden sei.

27. November: Der Strom fällt wieder aus, die Kälte ist zurück

Nach einer warmen Nacht werde es wieder kälter. Mylovanov erhält über seinen Twitter-Feed auch Ratschläge, wie er und seine Frau in der Wohnung warm bleiben könnten: zum Beispiel, indem sie ein Zelt aufstellen und in diesem eine Kerze in einem Blumentopf brennen lassen. Er glaube zwar nicht, dass das funktioniere, wolle aber experimentieren. Zuerst muss er ein Zelt finden. 

Vor der Invasion habe er auch an den Wochenenden oft gearbeitet, erzählt der Wissenschafter. Jetzt wolle er so viel Zeit wie möglich mit den Menschen verbringen, die er liebe. «Man weiss nie, was passiert.»

Unterdessen ziehen es offenbar mehr und mehr Studierende vor, in der Uni zu übernachten. Der Chef der Hochschule denkt darüber nach, einige Stockwerke als Schlafsäle zu nutzen.

Mylanovov besucht einen öffentlichen Wärmeschutzraum. Die Regierung hat verfügt, dass diese überall dort geschaffen würden, wo es sie braucht. Es ist dort warm, es gibt Elektrizität, warmes Essen und Trinken. Gemäss dem Professor befinden sie sich oft in Schulen und Spitälern. «Oft haben sie etwas Geld, aber das reicht nicht.» Manchen dieser Zentren fehle es an organisatorischen und Beschaffungs-Kapazitäten. 

Er werde seine Anstrengungen weiterhin auf seine Schule konzentrieren. Die Bilder der Studierenden erinnern an ein Jugendzentrum. Dabei kann auch in diesem Gebäude jederzeit eine russische Rakete einschlagen.

Tymofiy Mylovanov erklärt, sie seien bereit für die nächsten Raketenangriffe. «Die Russen schlagen oft am Montag zu. Das ist morgen.» Die Schäden würden jedes Mal schlimmer, Wasser und Wärme würden wohl für Tage fehlen. Aber die Menschen würden sich anpassen.