Russlands Teil-Mobilisierung Wie sich Putins grösster Trumpf auswirken könnte

Von Philipp Dahm

21.9.2022

Weitere Eskalation: Putin befiehlt Teilmobilmachung

Weitere Eskalation: Putin befiehlt Teilmobilmachung

Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russland eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Er habe diese Entscheidung nach einem Vorschlag des Verteidigungsministeriums getroffen und das Dekret unterschrieben, sagte Kremlchef Wladimir Putin in einer Fernsehansprache am Mittwoch. Die Teilmobilisierung beginne noch an diesem Mittwoch. Damit will er auch Personalprobleme an der Front lösen. Zuleich kündigte Putin an, Referenden in den besetzten Gebieten der Ukraine über einen Beitritt zu Russland zu unterstützen. Auf ähnliche Weise annektierte Russland 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim.  Die Scheinreferenden, die weder von der Ukraine noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden, sollen demnach vom 23. bis 27. September abgehalten werden.  Russland werde zudem alle Mittel einsetzen, um seine territoriale Unversehrtheit zu schützen, sagte Putin. Er erwähnte auch Atomwaffen.

21.09.2022

In der Theorie spielt Wladimir Putin mit der Teil-Mobilmachung seinen grössten Trumpf aus. In der Praxis kann das ganz unterschiedliche Folgen haben – von einer Implosion Russlands bis hin zu einem Krieg mit der NATO.

Von Philipp Dahm

21.9.2022

Aktienhändler und Banker haben es bereits gewusst, bevor Wladimir Putin auch nur ein Wort gesagt hat. Schon als die selbsternannten Volksrepubliken in Luhansk, Donezk und Cherson ankündigen, ein «Referendum» über einen Anschluss an Russland abhalten zu wollen, reagiert der Markt – und schifft ab: Der Aktienmarkt kollabiert.

Russische Wertpapiere verlieren in wenigen Stunden über zehn Prozent, bestätigt die staatliche russische Nachrichtenagentur «Tass». Die Wirtschaftsbosse wissen, was die Pseudo-Abstimmungen in den drei ukrainischen Regionen bedeuten: Moskau muss eine Mobilmachung ankündigen, weil die russischen Streitkräfte auch ohne Referendum am Rande ihrer Kräfte sind.

Für die Wirtschaft ist das aus mehreren Gründen eine Hiobsbotschaft. 300'000 Soldat*innen will der Kreml ausheben: Diese Männer und Frauen werden an ihren Arbeitsplätzen fehlen, die Produktivität wird sinken. Mit den Referenden steigt ausserdem die Gefahr einer Eskalation: Wie wird der Kreml reagieren, wenn ukrainische Truppen mit westlichen Waffen in Gebiete eindringen, die per Abstimmung zu russischem Kerngebiet geworden sind?

Ausrüstung und Ausbildung mangelhaft

Die Folgen der Teil-Mobilmachung sind schwer vorherzusagen, weil derart unterschiedliche Szenarien denkbar sind. Nur eins ist sicher: Es wird dauern, die 300'000 Männer und Frauen bereitzumachen für den Krieg. Aber für den Kreml dürfte das kein grosses Problem sein: Das Schlachtfeld wird gerade von herbstlichem Regen aufgeweicht, bevor es der Winter einfriert. Die Wucht der Mobilisierung kommt also erst 2023 zum Tragen.

Wladimir Putin posiert am 2. Februar 2018 zum 75. Jubiläum der Schlacht um Stalingrad im 1961 umbenannten Wolgograd.
Wladimir Putin posiert am 2. Februar 2018 zum 75. Jubiläum der Schlacht um Stalingrad im 1961 umbenannten Wolgograd.
AP

Kopfzerbrechen dürfte Moskau dagegen die Ausrüstung der Truppe bereiten. Schon jetzt fehlt es den Streitkräften an Material. Der Mangel beginnt bei schützender Kleidung, erstreckt sich über Nachtsichtgeräte und moderne Gewehre und geht hin bis zu modernen Panzern. Auf dem Papier hat Russland zwar genügend Kriegsgerät in der Reserve, in der Praxis ist der Zustand des Materials allerdings oft mangelhaft.

Dürftig dürfte auch die Qualität der neu aufgestellten Truppen sein. Sie werden den bisherigen Verlust von Berufssoldaten nicht aufwiegen, die Putin hinnehmen musste. Es ist fraglich, wie gut die 300'000 Soldat*innen ausgebildet werden: Bisher angeworbene Kämpfer*innen haben bloss einen ungenügenden, vier Wochen langen Grundkurs bekommen, bevor sie an die Front gekarrt worden sind.

Moral als grösstes Manko

Schlechte Ausbildung und Ausrüstung tragen wiederum zum grössten Problem bei, das sich Putin stellt: Schon jetzt ist die Moral der Streitkräfte am Boden. Sie ist so schlecht, dass sich die Führung bemüssigt fühlt, Deserteuren mit der Erschiessung zu drohen. Anscheinend glauben Putins Generäle, nur so Szenen wie im Oblast Charkiw verhindern zu können, als sogar die 1. Gardepanzerarmee vor der ukrainische Gegen-Offensive geflüchtet ist.

US-Veteran Chris Cappy spricht über Ausrüstung und Moral der russischen Armee.

Die 1. Gardepanzerarmee ist mit moderneren Panzern vom Typ T-80U ausgerüstet. Sie hätte im Falle eines Angriffs auf die NATO die Speerspitze gebildet. Im Verteidigungsfall ist sie für den Schutz Moskaus und speziell für Gegenangriffe vorgesehen. Wenn schon diese Truppe, die zu den professionellsten Russlands zählt, den Boden nicht halten kann, wie sollen es dann Reservisten schaffen?

Es bleibt dann auch offen, ob Putin die geplante Mobilisierung überhaupt gelingt. Wird es wieder Anschläge auf Rekrutierungsbüros geben wie zu Beginn des Krieges? Wie viele Wehrfähige werden sich der Zwangsrekrutierung entziehen? Wie wird sich das Ganze auf Familien und Freunde von Betroffenen auswirken, die den Krieg in der Ukraine bisher ignoriert haben?

Implosion Russlands? Krieg mit der NATO? Oder Atomwaffen?

Putin steht mit dem Rücken zur Wand: Wenn sein Trumpf nicht sticht, könnte ihn das sein Amt kosten. Unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen wäre auch eine Implosion der Russischen Föderation, wenn sich lokale Wortführer und Politiker vom Kreml lossagen würden. 

Auch eine Eskalation mit der NATO ist denkbar. Nachdem bekannt wurde, dass die Gegen-Offensive in Charkiw mit amerikanischen und britischen Experten durchgespielt worden ist, hat Moskau bereits kräftig auf die Zähne gebissen. Wie wird der Kreml reagieren, wenn ukrainische Soldaten in polnischen T-72-Panzern gerade annektiertes Kerngebiet Russland im Donbass oder Cherson angreifen, wenn sich schon jetzt Ultranationalisten im Kriegszustand mit der NATO wähnen?

Dieses ukrainische Video zeigt westliche Waffen im Einsatz auf dem Schlachtfeld.

Sollte die Teil-Mobiliserung im kommenden Jahr keine militärischen Erfolge einfahren, muss der Westen auch mit neuen nuklearen Drohgebärden rechnen. Ein tatsächlicher Einsatz von Atomwaffen ist unwahrscheinlich, was aber nicht heisst, dass Moskau nicht versuchen könnte, über erhöhte Alarmbereitschaft der entsprechenden Streitkräfte Druck zu machen. Die NATO muss auf dieses Szenario vorbereitet sein.

Letztendlich beschleunigt die Mobilisierung ein Problem, dass sich später sowieso gestellt hätte. Moskau betrachtet die Krim als russisches Gebiet, während Kiew immer wieder bekundet, die Halbinsel zurückerobern zu wollen. Der Angriff auf vermeintlich russisches Kernland wäre ohnehin passiert, wenn die ukrainische Armee im Süden weiter vorgerückt wäre.