Mutmassliche Verschleppungen Wie ukrainische Kinder russisch werden sollen

AP/toko

15.10.2022 - 20:17

Olga Lopatkina, links, und Maksim kommen nach einem Spaziergang in einem Park im westfranzösischen Loue nach Hause.
Olga Lopatkina, links, und Maksim kommen nach einem Spaziergang in einem Park im westfranzösischen Loue nach Hause.
AP/Jeremias Gonzalez (Archivbild)

Russland holt Jungen und Mädchen, die ihre Eltern verloren oder in Obhut und Heimen aufwachsen, aus der Ukraine und bringt sie bei russischen Familien unter. Vermutlich sind es bislang schon Tausende.

15.10.2022 - 20:17

Wie ein Tiger im Käfig lief Olga Lopatkina in ihrem Keller rastlos hin und her. Seit mehr als einer Woche hatte sie nichts von ihren Pflegekindern gehört, die in der südukrainischen Stadt Mariupol eingeschlossen waren. Eigentlich wollten die sechs dort Ferien machen, doch der Krieg und die russische Besatzung veränderten alles.

Die Mutter war ratlos und am Boden zerstört. Ihre Familie sollte in einen Aspekt des Krieges verwickelt werden, der zur Liste möglicher Kriegsverbrechen der russischen Angreifer gehört: die unverhohlenen Anstrengungen Russlands, ukrainische Waisenkinder aus ihrer Heimat zu verschleppen und als Russinnen und Russen zu erziehen.

Kinder nach Russland gebracht

Recherchen der Nachrichtenagentur AP zeigen, dass dies schon in grossem Umfang umgesetzt worden ist. Tausende ukrainische Mädchen und Jungen sind aus Kellern zerbombter Städte wie Mariupol und aus Kinderheimen in Separatistengebieten im Donbass mitgenommen worden. Dazu zählen Kinder, deren Eltern bei russischen Angriffen getötet wurden, Kinder aus Einrichtungen oder aus Pflegefamilien.

Russland erklärt, dass diese Kinder keine Eltern und keine Erziehungsberechtigten hätten, oder dass kein Kontakt zu diesen hergestellt werden könne. Nach AP-Recherchen wurden die Kinder aber ohne Abklärung und Zustimmung nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete gebracht. Immer wieder wurde ihnen auch vorgelogen, dass ihre Eltern sie nicht wollten, und sie wurden in russische Familien gegeben.

Die AP stützt sich auf Dutzende Interviews mit Eltern, Kindern und Jugendlichen sowie Behördenvertretern in der Ukraine und in Russland, auf russische Dokumente und Angaben russischer Staatsmedien, auf E-Mails und Briefe. Kinder aus Kriegsgebieten zu verschleppen und in einem anderen Land oder einer anderen Kultur grosszuziehen, kann als ein Signal für einen möglichen Genozid gewertet werden – im Versuch, die Identität eines Volkes auszuradieren.

Für die ukrainischen Strafverfolger führt die Spur direkt zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. «Das ist keine Sache, die spontan auf dem Schlachtfeld passiert», sagt Stephen Rapp, ein ehemaliger US-Sonderbotschafter für Kriegsverbrechensfragen, der die Ukraine bei der Strafverfolgung berät.

Staatsfernsehen zeigt die Zeremonien der Passübergabe

Im russischen Recht ist die Adoption ausländischer Kinder eigentlich untersagt. Putin unterzeichnete im Mai jedoch ein Dekret, das eine schnellere Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft für ukrainische Kinder ohne elterliche Fürsorge vorsieht. Geeignete russische Familien zur Aufnahme der Kinder sind derweil in einem Register geführt, und die Behörden bieten umfangreiche finanzielle Unterstützung an. Adoptionen werden als Akt der Hochherzigkeit und des Grossmuts dargestellt, das Staatsfernsehen zeigt die Zeremonien der Passübergabe an ukrainische Kinder.

Wie viele Jungen und Mädchen bereits aus der Ukraine nach Russland gebracht wurden, ist schwer zu sagen. Nach ukrainischen Angaben sind es schon fast 8000. Aus Russland kommen keine aktuellen Zahlen, bereits im März hatte die russische Ombudsfrau für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, aber von 1000 ukrainischen Kindern gesprochen.

Lwova-Belowa selbst hat einen Teenager aus Mariupol aufgenommen. Ihr Büro verwies die AP bei der Bitte um Stellungnahme auf eine Antwort Lwova-Belowas, die eine staatliche Nachrichtenagentur zitiert hatte – nämlich, dass Russland «den Kindern hilft, ihr Recht auf ein Leben unter einem friedlichen Himmel zu wahren und glücklich zu sein».

Bei ihren Recherchen besuchten die AP-Journalisten unter anderem ein Lager nahe der russischen Küstenstadt Taganrog, wo Hunderte ukrainische Waisenkinder untergebracht waren. Eine Pflegemutter aus der Region Moskau sagte ihnen, der Sozialdienst habe sie gebeten, ukrainische Kinder aufzunehmen. Zu ihren zuvor bereits sechs russischen Pflegekindern habe sie dann noch drei aus Mariupol aufgenommen. Inzwischen hätten sie alle die russische Staatsbürgerschaft.

Wahl zwischen russischer Familie oder Waisenheim

Die Kinder waren nach eigenen Angaben von ihrer ukrainischen Pflegemutter in einen Schutzbunker in Mariupol gebracht worden. Dort seien sie von russischen Soldaten herausgeholt und vor die Wahl gestellt worden, ob sie in eine russische Familie oder in ein russischen Waisenheim wollten.

Auch die Kinder von Olga Lopatkina kauerten tagelang in einem Keller in ihrem Ferienort bei Mariupol. Der 17 Jahre alte Timofej kümmerte sich um seine jüngeren Geschwister, von denen drei chronisch krank sind oder wegen Behinderungen eingeschränkt sind. Als in der ganzen Stadt der Strom ausfiel, verloren sie den Kontakt zu ihrer Mutter. Einem Arzt aus Mariupol gelang es, sie zu evakuieren – nur um dann von prorussischen Kräften an einem Kontrollpunkt zurückgewiesen zu werden.

Die Kinder und Jugendlichen landeten in einem Krankenhaus in der Separatistenrepublik Donezk. Bis Timofey seine Mutter endlich erreichte, war die schon aus der Ukraine geflohen: Olga Lopatkina, die selbst als Jugendliche ihre Mutter verloren hatte, hatte ihre 18-jährige leibliche Tochter Rada aus dem Kampfgebiet in Sicherheit nach Frankreich gebracht.

Verzweifelt wandten sich Lopatkina und ihr Mann dann an russische und ukrainische Behörden und baten Aktivisten um Hilfe, um ihre Kinder zurückzubekommen. Als die Behörden in Donezk Olga Lopatkina erklärten, sie dürfe die Kinder holen, müsse aber über Russland einreisen, fürchtete die Mutter eine Falle und lehnte ab. Derweil wurde Timofej gesagt, ein Gericht werde seinen Pflegeeltern die Vormundschaft entziehen und die Geschwister würden zu neuen Familien in Russland gebracht.

Dann endlich schafften Olga Lopatkina und ihre Unterstützer den Durchbruch: Die Donezker Behörden liessen zu, dass ein Vermittler die Kinder abholen dürfe. In Frankreich kam die Familie schliesslich wieder zusammen.

Von Timofej fiel die schwere Last der Verantwortung ab, die er für seine jüngeren Geschwister geschultert hatte. «Ich sagte: «Mutter, übernimm du.» Jetzt bin ich wieder ein Kind.»

AP/toko