Russen in der Ukraine bedrängt Militär-Experte: «Nun wendet sich ‹General Winter› gegen die Invasoren»

Von Herbert Aichinger

22.10.2022

Der kommende Winter wird sowohl russische als auch ukrainische Truppen vor neue Herausforderungen stellen: Russische Soldaten bei einer Übung in Schnee und Eis.
Der kommende Winter wird sowohl russische als auch ukrainische Truppen vor neue Herausforderungen stellen: Russische Soldaten bei einer Übung in Schnee und Eis.
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Gegen Napoleon und Hitler konnten die Russen im Winter ihre Überlegenheit ausspielen. Der Krieg in der Ukraine könnte sich in der kalten Jahreszeit jedoch ganz anders entwickeln.

Von Herbert Aichinger

22.10.2022

Schon 1812 setzte der harte russische Winter den Truppen Napoleons in der Dnjepr-Region um Smolensk schwer zu. Aufgrund der schlechten Versorgung der Streitkräfte verlor die Grande Armee des französischen Despoten in der extremen Kälte mehr Soldaten durch Hunger und Krankheit als in kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Gegner.

Russen gedenken der Opfer der Schlacht um Stalingrad. Auch damals spielte der Winter eine kriegsentscheidende Rolle.
Russen gedenken der Opfer der Schlacht um Stalingrad. Auch damals spielte der Winter eine kriegsentscheidende Rolle.
EPA/ALEXANDER ZEMLIANICHENKO/KEYSTONE

Ähnlich erging es Hitler auf seinem Russlandfeldzug: Hier erwies sich insbesondere die Schlacht um Stalingrad (heute Wolgograd, Anm. d. Red.) im Winter 1942/43 als Fanal: Abgeschnittene Versorgungswege und die klirrende Kälte kosteten etwa 170‘000 deutschen Soldaten das Leben.

Der Winter dreht die Spiesse um

Im russischen Angriffsrieg gegen die Ukraine könnte der Winter jedoch weniger den Russen als vielmehr den ukrainischen Streitkräften in die Hände spielen: Die Ukraine konnte in den letzten Wochen enorme Geländegewinne erzielen und die russischen Streitkräfte im Osten immer weiter zurückdrängen. Dennoch wird der regnerische Herbst und der kommende Winter beide Kriegsparteien in den nächsten Wochen und Monaten vor besondere Herausforderungen stellen.

Déjà vu: Panzer der ukrainischen Armee in der Nähe des Dorfes Peski im Gebiet Donezk, Ukraine, am 31. Dezember 2014. Der damalige ukrainische Präsident Poroschenko hatte den Weg freigemacht für die Bewerbung der Ukraine zu einem Nato-Beitritt. Ein Schritt, der von Russland von Anbeginn entschieden abgelehnt wurde.
Déjà vu: Panzer der ukrainischen Armee in der Nähe des Dorfes Peski im Gebiet Donezk, Ukraine, am 31. Dezember 2014. Der damalige ukrainische Präsident Poroschenko hatte den Weg freigemacht für die Bewerbung der Ukraine zu einem Nato-Beitritt. Ein Schritt, der von Russland von Anbeginn entschieden abgelehnt wurde.
EPA/OLGA IVASHCHENKO/KEYSTONE

Marcel Berni, Leiter der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH, sieht den nahenden Winter als Motivation für die Ukraine, vor dem Kälteeinbruch noch möglichst viel Boden gut zu machen: «‹General Winter› ist ein euphemistisches Konzept aus der russischen Geschichte. Es besagt, dass es fremden Mächten aufgrund der sibirischen Kälte schwerfällt, in Russland dauerhaften militärischen Erfolg zu erzielen. Nun wendet sich ‹General Winter› paradoxerweise gegen die als Invasoren auftretenden Russen.»

Berni weiter über die mit dem Winter verbundenen logistischen Probleme: «Kältere Temperaturen bewirken häufig, dass sich schwerere Geräte aufgrund des gefrorenen Bodens zwar leichter verschieben lassen. Aber damit steigt auch die Gefahr von sogenannten Friktionen, das heisst: Gerät vereist, Nachschubwege werden länger und die Motivation sinkt. Das alles bremst den militärischen Vormarsch. Dies gilt aber für beide Seiten, und der kommende Winter dürfte ein Grund sein, weshalb die Ukrainer im Moment so viel Gelände wie möglich unter Kontrolle bringen wollen.»

Bleibt der Krieg im Herbst wieder im Schlamm stecken?

Bereits im letzten Frühjahr hat sich gezeigt, wie sehr schlammige Böden das Vorankommen erschweren können. Zahllose russische Militärfahrzeuge blieben im Morast stecken und waren dadurch dem Gegner hilflos ausgeliefert. Gerade in Regionen, die nicht mehr über ein durchweg befestigtes Strassennetz verfügen, wird es für Radfahrzeuge und gezogene Artillerie-Geschütze schwierig. Hier sind vor allem Kettenfahrzeuge gefragt. «Die angreifende Seite braucht feste Böden, damit man nicht nur auf die Strassen beschränkt ist», sagte Niklas Masuhr vom Center for Security Studies an der ETH dem SRF.

Menschen im südukrainischen Cherson warten, um mit Fährschiffen über den Dnjepr aus der Stadt evakuiert zu werden.
Menschen im südukrainischen Cherson warten, um mit Fährschiffen über den Dnjepr aus der Stadt evakuiert zu werden.
EPA/PEOPLE'S MILITIA DPR/KEYSTONE

Werden sich die «Schlamm-Probleme» des Frühjahrs in diesem Herbst für die Truppen wiederholen? «Das kommt sehr auf den Winterverlauf an», sagt Marcel Berni. «Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass vor und nach dem Winter die sogenannte Rasputiza, die Schlammzeit, den Bewegungskrieg stark einschränken kann. Grosse Operationen könnten es folglich schwer haben. Ich rechne daher eher mit einer Frontstabilisierung im Winter.»

Fehlende Deckung, gefrorene Böden

Auch für die ukrainischen Kräfte, die ja gern aus dem Hinterhalt agieren, wird sich mit dem Winter angesichts des gefallenen Laubs die Taktik ändern müssen, da es dann schwieriger ist, gute Deckung zu finden. Naheliegend ist, dass auch die Ukraine im Winter mehr auf Drohnenangriffe setzen wird.

Oliksii Lubetskij, Soldat einer Infanterieeinheit der ukrainischen 101. Territorialverteidigungsbrigade, weist im «Spiegel» auf weitere Erschwernisse hin. Er erläutert, dass das Ausheben von Gräben auch im Winter bei gefrorenem Boden zur Hälfte per Hand und Muskelkraft mit Schaufeln und Spitzhacken erfolgt.

Ein ukrainischer Soldat erkundet einen Schützengraben, den russische Truppen vor ihrem Rückzug in der Region um Cherson angelegt hatten.
Ein ukrainischer Soldat erkundet einen Schützengraben, den russische Truppen vor ihrem Rückzug in der Region um Cherson angelegt hatten.
AP Photo/Leo Correa/KEYSTONE

Dazu Marcel Berni: «Im Hinblick auf den Kälteeinbruch ist wintertaugliche Kleidung und Ausrüstung elementar. Auf dem Schlachtfeld hilft der Winter eher den Ukrainern, da sie zumeist die bessere Ausrüstung haben. Aber auf dem geopolitischen Parkett wird der Winter die westliche, insbesondere die europäische Unterstützung für die Ukraine auf die Probe stellen.»

Westliche Unterstützung könnte der Ukraine einen entscheidenden Vorteil verschaffen

Bereits im Sommer zeichnete sich ab, dass das russische Militärgerät teils veraltet und marode ist und zudem die Logistik für den Nachschub an Munition und Nahrung immer wieder an ihre Grenzen kommt. Es häufen sich Berichte über die schlechte Ausbildung, Moral und Ausstattung der Soldaten. Abgehörte Telefongespräche werfen ein vielsagendes Bild auf den Zustand der russischen Einheiten: Die Rede ist von schlechter Organisation, miserabler Versorgung und chaotischen Bedingungen, die zuweilen dazu führen, dass eigene Leute von Panzern überfahren oder versehentlich erschossen werden.

Auf der anderen Seite profitieren die äusserst motivierten ukrainischen Truppen von modernem westlichen Kriegsgerät samt Ersatzteilen, Wartung und Ausbildung.

Winterfeste Kleidung ist bei den Russen Mangelware

Insbesondere Infanteristen dürften auf beiden Seiten unter den widrigen Bedingungen des Winters bei Temperaturen bis zu –15 Grad zu kämpfen haben. Laut russischen Medien müssen sich Putins Rekruten ihre Winterausrüstung oft selbst zusammenstellen – und suchen in Sportgeschäften nach Tarnrucksäcken, Isomatten und Schlafsäcken. Winterstiefel in den richtigen Grössen sind vielerorts ausverkauft. Es fehlt ausserdem an Zelten und Öfen.

Dank westlicher Unterstützung sind ukrainische Soldaten besser für den Winter gerüstet als ihre russischen Widersacher: Deutschland, Kanada und Spanien schickten unter anderem Winteruniformen mit Mänteln, Thermounterwäsche, Thermosocken und Stiefeln.

Laut Marcel Berni sind weitere materielle Lieferungen an die Ukraine essenziell: «Kälte- und niederschlagsfeste Kleidung wie sie die kanadische Regierung vergangene Woche angekündigt hat, wird den ukrainischen Infanteristen in der Zukunft einen grossen Vorteil gegenüber den eher schlechter ausgerüsteten Russen verleihen.»

Putin versucht, die Ukrainer über Angriffe auf die Energieversorgung zu zermürben

Während sich die russischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld im Umfeld der annektierten Gebiete um Cherson und Donezk derzeit eher in der Defensive befinden, versuchen sie, die ukrainische Zivilgesellschaft vor dem Winter durch gezielte Angriffe auf die Strom- und Wasserversorgung zu demoralisieren. Laut Kiew sind derzeit etwa 40 Prozent der ukrainischen Energie-Infrastruktur beschädigt. Landesweit wird der Strom durch den Energieversorger Ukrenergo zeitlich gestaffelt bis zu vier Stunden abgeschaltet.

Ukrenergo bedankte sich aber auch jetzt erneut über die sozialen Medien für die Unterstützung durch westliche Stromversorgungsunternehmen: Zuletzt lieferte der belgische Betreiber Elia neue Generatoren, Isolatoren für Freileitungen, Drähte und Kupplungen im Wert von mehreren Hunderttausend Euro.

Noch möglichst viele Gelände vor dem Frost gewinnen

Marcel Berni erkennt bei beiden Kriegsparteien das Bestreben, sich noch vor dem Eintritt des Winters eine vorteilhafte Ausgangsposition zu verschaffen: «Beide Seiten versuchen wohl, vor Wintereinbruch noch grössere Gebietsgewinne zu machen, um diese dann zu konsolidieren. Diesbezüglich stehen die Chancen der Ukrainer zurzeit besser. Die Russen könnten zudem weiter versuchen, die ukrainische Zivilbevölkerung anzugreifen. Besonders treffen dürfte der Winter diese, wenn die russischen Angriffe auf die Energieversorgung fortgesetzt werden und weiterhin erfolgreich sind.»