Krieg in der Ukraine «Wir gingen mit der Angst ins Bett, dass wir nicht mehr aufwachen»

Redaktion blue News

30.7.2022

Mariupol: Bilder aus einer völlig zerstörten Stadt

Mariupol: Bilder aus einer völlig zerstörten Stadt

Die südukrainische Stadt Mariupol wird seit Wochen von russischen Truppen belagert – nach Angaben der ukrainischen Regierung sind dort fast 100.000 Menschen von jeglicher Versorgung mit Wasser, Essen und Strom abgeschnitten. Handybilder zeigen ein

25.03.2022

Ein Leben in ständiger Angst. In Ungewissheit, ob das Leben am nächsten Tag vorbei ist. So erlebte ein 23-Jähriger aus Mariupol die letzten Monate. Er verliess die Stadt erst vor ein paar Wochen. Im Interview schildert er seine Erlebnisse. 

Redaktion blue News

Mariupol, ein Name, der seit knapp einem halben Jahr fast täglich in den Medien erscheint. Der Angriff auf eine Geburtsklinik, die Bombardierung des Theaters und die Belagerung des Stahlwerks «Azovstahl» sind nur drei von mehreren Beispielen, die in den letzten Monaten für Entsetzen gesorgt haben. 

Die Hafenstadt, die vor Russlands Krieg auf die Ukraine über 400'000 Einwohner hatte, ist zerstört. Die meisten Menschen flohen. Der 23-jährige M.D.* und seine Mutter blieben. Erst am 21. Juni verliessen sie Mariupol. 

Als Allererstes: Wie geht es Ihnen?

Alles in allem gut. Ich lebe und bin gesund.

Wie haben Sie den Einmarsch der russischen Truppen in Mariupol erlebt?

Wir lebten in ständiger Angst und Ungewissheit. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, wir wussten nicht, was morgen passiert. Wir gingen mit der Angst ins Bett, dass wir am Morgen nicht mehr aufwachen. 

Eine Frau steht vor der zerstörten Geburtsklinik in Mariupol am 9. März 2022. 
Eine Frau steht vor der zerstörten Geburtsklinik in Mariupol am 9. März 2022. 
KEYSTONE/AP Photo/Evgeniy Maloletka

Sie haben auch nach Ausbruch des Krieges mehrere Monate in Mariupol verbracht.

Ich lebte bei meiner Mutter. Wir blieben die ganze Zeit zusammen. Als der Krieg am 24. Februar ausbrach, begleitete ich meine Mutter zur Arbeit, damit wir nicht getrennt werden. Sie arbeitete im Stahlwerk «Azovstal». Wir waren bis am 1. März die ganze Zeit dort, denn in den ersten Tagen war es unheimlich, zu Hause zu sein. Wir fühlten uns in «Azovstal» sicherer.

Nach dem 1. März blieben wir dann zu Hause. Auch wenn in unserem Quartier zu dem Zeitpunkt keine Kämpfe stattfanden, hörten wir das Kriegsgeschehen aus anderen Stadtteilen Mariupols.

Meine Mutter und ich beschlossen dann, eine Cousine zu besuchen, die nicht weit entfernt wohnte, um etwas Gesellschaft zu haben. Wir blieben schliesslich zwei Wochen bei ihr. Als die Kämpfe auch in unsere Wohngegend vordrangen, geriet die Wohnung im Stockwerk oberhalb der Wohnung meiner Cousine unter Beschuss. Dann mussten wir fliehen. 

Wir kehrten nach Hause zurück. Später wurde auch unser Haus zum Teil zerstört und war unbewohnbar. Ein Luftangriff in der Nähe zerstörte unsere Fenster komplett. Die Decken stürzten teilweise ein. Auch die Türen und Teile des Dachs wurden beschädigt. Wir wohnten dann bei Nachbarn, deren Haus nicht ganz so stark beschädigt war.

Eine Explosion in einem Wohnhaus in Mariupol am 11. März 2022, nachdem ein russischer Panzer darauf geschossen hat.
Eine Explosion in einem Wohnhaus in Mariupol am 11. März 2022, nachdem ein russischer Panzer darauf geschossen hat.
KEYSTONE/AP Photo/Evgeniy Maloletka, File

Wie sah Ihr Alltag aus? Wie kamen Sie an Lebensmittel? 

Wir hatten das grosse Glück, dass es in der Nähe unseres Hauses eine Quelle mit Wasser gab, so konnten wir täglich Wasser holen. Wir suchten Feuerholz oder sägten Holz, versuchten, Nahrung zu finden und zu kochen. Als uns die Lebensmittel ausgingen, suchten wir in einem anderen Quartier nach Nahrung. Das dauert hin und zurück über zwei Stunden zu Fuss. Das Mitte April. Zu diesem Zeitpunkt konzentrierten sich die Russen auf den Angriff auf das Stahlwerk «Azovstal», daher war es in unserem Quartier nicht mehr ganz so gefährlich für uns.

Rauch steigt aus dem teilweise zerstörten Stahlwerk «Azovstal» in Mariupol am 4. Mai 2022. 
Rauch steigt aus dem teilweise zerstörten Stahlwerk «Azovstal» in Mariupol am 4. Mai 2022. 
KEYSTONE/AP Photo/Alexei Alexandrov

Bankkarten konnten wir im wahrsten Sinne des Wortes vergessen. Man konnte nirgendwo Geld abheben – ausser über Drittpersonen. In einer Zeitung las ich, dass in einem Geschäft eine provisorische Bank eröffnet wurde und man dort Bargeld abheben konnte. Ich traute der Sache nicht, weil man dort die Bankkarte, den PIN-Code, den Pass und die SIM-Karte des Handys abgeben musste, um Bargeld zu beziehen. Das wollten wir nicht, darum gingen wir nie hin.

Ansonsten haben wir, um nicht verrückt zu werden, viel geredet und Bücher gelesen.

Konnten Sie während des Kriegs noch arbeiten? 

Nein. Das Kino, in dem ich gearbeitet habe, ist abgebrannt. Das hat mich sehr traurig gemacht. Ich bin ein paarmal dort vorbeigekommen, als ich humanitäre Hilfe in Anspruch nahm. Der Anblick war schmerzhaft. Ich habe diesen Job und das Kino geliebt. Arbeitskollegen von mir waren vor Ort, nachdem alles niedergebrannt war. Sie haben mir erzählt, wie es drinnen aussah. Ausserdem habe ich Videos davon gesehen. 

Wie geht es Ihrer Familie und Ihren Freunden?

Die meisten meiner Freunde haben Mariupol verlassen. Nach dem 2. März gab es keine Kommunikation mehr in der Stadt. Von meinen Verwandten und Freunden hörte ich erst wieder, als die Kämpfe vorbei waren und ich eine SIM-Karte erhielt. Das war Ende April. Davor herrschte Ungewissheit. Wir grübelten ständig, was geschehen war und geschehen sein könnte. Ich habe in der Nähe des Hauses meiner Freunde nachgesehen, ob sie da sind, aber niemanden gefunden.

Sie und Ihre Mutter sind dagegen lange in Mariupol geblieben. 

Wir sind schliesslich auch gegangen. Unsere Flucht haben wir nicht gross geplant. Wir waren von der Aussenwelt abgeschnitten, hatten weder Internet noch Telefon- oder Handyempfang. Es gab einen Laden, in dem auch humanitäre Hilfe angeboten wurde. Dort gab es Internet-Empfang, allerdings nur während ein paar Stunden. Dort habe ich nach jemandem gesucht, der uns abholen kann und wurde fündig.

Freiwillige Helfer haben uns am 21. Juni mit einem Bus abgeholt. Wir waren zusammen mit anderen Menschen, darunter Kinder und ältere Menschen, zwölf Stunden unterwegs in ein Gebiet, das nicht von den Russen kontrolliert wurde. Wir hatten Glück, dass die Fahrt nicht lange dauerte. Andere Menschen sassen tagelang in einem Bus.

Eine Mutter und ihr Sohn werden am 2. März 2022 in einem Bus aus Mariupol evakuiert.  
Eine Mutter und ihr Sohn werden am 2. März 2022 in einem Bus aus Mariupol evakuiert.  
KEYSTONE/EPA/ROMAN PILIPEY

Wo leben Sie jetzt? 

Wir haben eine Wohnung in Dnipro gemietet. Dank der staatlichen Unterstützung, die wir erhalten, können wir uns das leisten. In den ersten zwei Wochen gingen wir zu verschiedenen humanitären Stationen. Wir haben uns inzwischen für eine Station entschieden, wo wir alle zwei Wochen ein Essenspaket holen dürfen. Ausserdem bekommen einmal im Monat Hygieneartikel wie Shampoo und Waschmittel.

Wie halten Sie sich über die aktuelle Situation auf dem Laufenden?

Als wir noch in Mariupol waren, hörten wir die Neuigkeiten über die Stadt und die Situation im Land durch Gerüchte und Mundpropaganda. Das war nach der Besetzung. Wir gingen zu Bekannten von Bekannten, um Essen auszutauschen, sie gaben uns etwas, wir brachten etwas mit. Wir versuchten ausserdem, Telefonverbindungen herzustellen, und redeten einfach. Vor der Besetzung lief die Polizei oft in unserer Gegend herum und verteilte Flugblätter mit Nachrichten aus den restlichen Gebieten der Ukraine. Wir erhielten zwar nicht jeden Tag neue Informationen, aber immerhin erfuhren wir trotzdem, was ausserhalb Mariupols alles passiert ist.

Jetzt, wo ich in Dnipro bin, habe ich eine Reihe von vertrauenswürdigen Telegram-Kanälen abonniert, von denen ich Informationen über die Ukraine und über Dnipro separat erhalte. Nachrichten über Mariupol schaue ich mir nicht mehr an. Ich will nicht daran denken, wie es dort jetzt aussieht.

Das Interview wurde ursprünglich auf Ukrainisch geführt. Der vollständige Name von M. D. ist der Redaktion bekannt, wird zu seinem Schutz aber nicht veröffentlicht. 

Ein Satellitenbild zeigt die Zerstörung in Mariupol am 14. März 2022. 
Ein Satellitenbild zeigt die Zerstörung in Mariupol am 14. März 2022. 
KEYSTONE/EPA/MAXAR TECHNOLOGIES HANDOUT