Massaker in Butscha «Putin und seine Entourage pfeifen auf das Kriegsrecht»

Von Lia Pescatore

4.4.2022

Ukrainische Verbände sind auf Opfer von Gräueltaten gestossen, nachdem sie von der russischen Armee aufgegebene Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die Toten von Butscha werden wohl nicht die letzten sein, vermutet ein Sprecher von Amnesty International. 
Ukrainische Verbände sind auf Opfer von Gräueltaten gestossen, nachdem sie von der russischen Armee aufgegebene Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die Toten von Butscha werden wohl nicht die letzten sein, vermutet ein Sprecher von Amnesty International. 
KEYSTONE / AP Photo / Vadim Ghirda

Das Massaker in Butscha hat der Öffentlichkeit die Grausamkeit des Kriegs in der Ukraine aufzeigt – der Aufschrei ist gross. Doch was sind die rechtlichen Konsequenzen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zur Aufarbeitung.

Von Lia Pescatore

4.4.2022

Hunderte getötete Zivilisten in den Strassen von Butscha. Schutz suchend hinter ihren Autos, teilweise mit gefesselten Händen. Die erschütternden Bilder aus dem Vorort Kiews gingen um die Welt. Für Beat Gerber, Mediensprecher von Amnesty International, kommen sie jedoch nicht unerwartet. Beim Massaker in Butscha handle es sich eigentlich um ein «Akkumulationspunkt von Verbrechen». «Die Anzeichen auf Kriegsverbrechen verdichten sich seit Wochen», seit Kriegsbeginn habe sich ein grosser Katalog an Verletzungen von humanitärem Völkerrecht und mutmasslicher Kriegsverbrechen von russischer Seite angesammelt. Dazu zählen laut Gerber die wahllosen Angriffe auf zivile Einrichtungen, der Einsatz von Streuwaffen, aber auch die russische Belagerungstaktik, durch die die zivile Bevölkerung bewusst von der Aussenwelt abgeschnitten worden sei.

Ein Ende sei nicht in Sicht: «Wir müssen leider davon ausgehen, dass dies wohl nicht das letzte Verbrechen, sondern wohl erst der Anfang ist», sagt Gerber. Es deute nichts darauf hin, dass Russland gewillt sei, seine Taktik zu ändern. Erfahrungen aus Tschetschenien und Syrien würden zeigen, «dass Putin und seine Entourage auf das Kriegsrecht pfeifen». Bis jetzt seien die russischen Kommandanten und politischen Führer ungesühnt geblieben. «Es kann aber gut sein, dass es in Zukunft Prozesse gegen Kommandanten geben wird.» Die Aufmerksamkeit sei sehr gross und die Position der Staatengesellschaft klar: Es muss Konsequenzen geben. 

Wer kann genau geahndet werden?

Völkerrechtsprofessor Lorenz Langer erklärt, dass Soldaten für das Töten von anderen Soldaten grundsätzlich nicht geahndet werden können. Das humanitäre Völkerrecht schliesse auch zivile Opfer nicht ganz aus, doch gälten dafür strenge Voraussetzungen bezüglich militärischer Notwendigkeit. Kommt es jedoch zu Kriegsverbrechen, können die Soldaten sowie auch ihre Kommandanten dafür bestraft werden. 

Und wie ist es mit den politischen Anstiftern?

Hier wird es komplexer. Die Befehlskette vom Soldaten bis zum Präsidenten nachzuvollziehen, sei schwierig, sagt Gerber: «In den wenigsten Fällen wird es möglich sein, eine direkte Anordnung von ganz oben zu beweisen.» Sei jedoch die völkerrechtsverletzende Kriegsführung von einem solchen Ausmass, dass von Absicht oder bewusster Duldung durch die Staats- und Militärführung ausgegangen werden müsse, dann könnten auch oberste Befehlshaber ins Visier der Ermittlungen geraten. «Wenn sich weiterhin im gleichen Masse Material ansammelt, wie in den letzten Wochen, ist dies absolut möglich», so Gerber.

Wer muss die Aufarbeitung anstossen?

International ist der Aufschrei gross, viele Staaten fordern neben schärferen Sanktionen die lückenlose Aufklärung. Auch UNO-Generalsekretär António Guterres hat eine unabhängige Untersuchung verlangt.

Gemäss Langer ist es jedoch fraglich, inwieweit eine solche Untersuchung im Rahmen der UNO möglich ist. «Eine andere Option wäre eine Untersuchung im Rahmen des Verfahrens, das bereits am Internationalen Strafgerichtshof hängig ist», sagt Langer.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist zuständig für Gerichtsverfahren von Individuen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Jedoch unterliegen weder die Ukraine noch Russland der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes, da sie beide das Römische Statut, die rechtliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, nicht unterschrieben haben. Trotzdem darf der IStGH-Chefermittler Karim Khan im aktuellen Krieg begangene Kriegsverbrechen verfolgen: Die Ukraine hat nach der Krim-Annexion im Jahr 2014 dazu Erklärungen unterschrieben. 

Schlussendlich ist auch ein Verfahren auf nationaler Ebene möglich. «Dermassen schwere Verletzungen des Völkerrechts können überall geahndet werden, auch in der Schweiz», sagt Gerber.

Wie genau erfolgt so eine Aufarbeitung?

Damit ein Haftbefehl ausgesprochen werden könnte, müsste sich der Verdacht rund um eine Person so weit verdichten, dass die Ermittlungen gezielt gegen diese gerichtet werden könnten – das dauere Jahre, sagt Gerber. 

Als erster Schritt sei es wichtig, forensisches Material zu sammeln, sagt er. «Das muss ziemlich rasch erfolgen, in den nächsten Tagen.» Sobald Leichen begraben und Tatorte gereinigt wurden, sei es schwierig, Spuren zu sichern. Die genaue Aufarbeitung würde hingegen Monate bis Jahre dauern.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bereits Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine aufgenommen, auch nationale Staaten wie die Ukraine selbst haben angekündigt, Beweise zu sammeln.

Auch Amnesty International wird sich daran beteiligen. Nach einer ersten Phase, in der Ermittlungen in erster Linie aus der Distanz via Bild-, Video- und Satellitenauswertungen gemacht wurden, sind nun auch Rechercheteams der Menschenrechtsorganisation im Kriegsgebiet. «Sobald es sicherheitstechnisch möglich ist, sichern wir an Kriegsschauplätzen Beweise und befragen Zeugen», sagt Gerber.

Im Fall Butscha gilt es unter anderem zu beweisen, dass die Opfer tatsächlich wehrlose Bürger waren, wie es Augenzeugen bestätigen. Dies ist entscheidend, da Zivilisten und Soldaten unterschiedliche Status zukommen. «Zivilisten dürfen grundsätzlich an den Kampfhandlungen nicht teilnehmen», sagt Langer. «Tun sie dies trotzdem, können sie strafrechtlich verfolgt werden.» Es gebe jedoch eine Ausnahme: Wenn sich die gesamte Zivilbevölkerung spontan gegen einen Aggressor erhebe, werde sie rechtlich gleich behandelt wie die Soldaten. «Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Regel in der Ukraine zur Anwendung kommt», so die Einschätzung von Langer.

Gerber schenkt den Vorwürfen, dass es sich bei dem Fall Butscha um eine Inszenierung handle, kaum Glauben, da sie vor allem von russischer Propaganda verbreiten würden. Dennoch betont er: «Die Gräueltaten müssen von unabhängiger Stelle untersucht werden», erst wenn juristisch jedes Detail aufgearbeitet sei, dürfe man abschliessend urteilen.

Was würde ein Haftbefehl für Putin überhaupt bedeuten?

Auch wenn der IStGH-Chefankläger Khan einen internationalen Haftbefehl beantragen würde, ist es unwahrscheinlich, dass Russland seinen Präsidenten an Den Haag ausliefern würde. Voraussetzung dafür wäre wohl ein Regimewechsel in Moskau.

Putin würde ein Haftbefehl trotzdem extrem einschränken. Denn jeder Vertragsstaat des Gerichts wäre verpflichtet, ihn bei der Einreise festzunehmen und dem Gericht in Den Haag zu überstellen. Seine Bewegungsfreiheit wäre dann extrem eingeschränkt, er wäre noch isolierter als jetzt.