Frauen an der Front in der Ukraine «Putin hat nicht mit uns gerechnet»

Von Philipp Dahm

11.4.2022

Frauen sind im Krieg in der Ukraine mittendrin: Sie bringen ihre Familie in Sicherheit, sie kämpfen an der Front, aber auch dahinter. Das hat in dem Land Tradition, doch auch Ausländerinnen mischen mit.

Von Philipp Dahm

11.4.2022

Wer nicht um die Geschichte der Ukraine weiss, bemerkt sie erst in der ersten Kriegswoche: die Ukrainerin, die sich erstaunlich wehrhaft zeigt.

Da ist etwa das Grossmütterchen in Henitschesk, einer 20'000-Einwohner-Stadt am Asowschen Meer, das den russischen Invasoren kühl bescheidet, sie sollten doch Sonnennblumen-Kerne in ihre Taschen tun: Wenn sie fallen, würden dort wenigsten Pflanzen wachsen.

Oder die Frauen, die sich einen Tag nach dem Kriegsausbruch auf einem Platz in Dnipro im Osten des Landes sammeln, um massenhaft Molotow-Cocktails herzustellen. Eine sagt: «Niemand hätte gedacht, dass wir so unsere Wochenenden verbringen werden, aber so machen wir es jetzt und es scheint, als wäre es das einzig Wichtige, das wir jetzt machen können.» 

Und dann wäre da noch Raissa, die in einem der östlichen Vororte von Kiew lebt. Die Ukrainerin zeigt «CNN»-Reporterin Clarissa Ward, wie sie vor ihrem Haus Hilfsgüter sammelt. Die Grossmutter hat als Ökonomin gearbeitet, bevor sie in Pension ging. Nun bereitet sie sich auf den Kampf vor, indem auch sie Molotow-Cocktails baut.

«Sollen die russischen Arschlöcher nur kommen»

«Sollen die russischen Arschlöcher nur kommen», sagt Raissa mit fester Stimme, «wir sind bereit, sie willkommen zu heissen.» Ward fragt: «Wo haben sie gelernt, Molotow-Cocktails zu bauen?»  Die Antwort: «Google hat geholfen. Wir haben es gegoogelt.» Sollte der Feind kommen, werde er geschlagen. «Ich glaube an unsere Ukraine. Ich glaube an unser Volk.» 

Was sich in der ersten Kriegswoche abzeichnet, ist kein Strohfeuer: Frauen spielen in dem Konflikt eine viel grössere Rolle, als es bei uns der Fall wäre. Das hat Tradition: Im Zweiten Weltkrieg haben in der Roten Armee Zehntausende Ukrainerinnen gegen die Achsenmächte gekämpft. 

Oberfeldwebel Ljudmila Pawlitschenko mit circa 26 Jahren auf der Krim bei Sewastopol auf einem Foto von 1942.
Oberfeldwebel Ljudmila Pawlitschenko mit circa 26 Jahren auf der Krim bei Sewastopol auf einem Foto von 1942.
Gemeinfrei

Allein 2484 Scharfschützinnen soll es in den sowjetischen Truppen gegeben haben, die angeblich über 11'000 Wehrmachtssoldaten das Leben nahmen. Eine von ihnen war Ljudmila Pawlitschenko. Sie wurde von den Nazis am meisten gefürchtet: Mit 309 bestätigten Treffern gilt die Kiewerin als erfolgreichste Frau ihres Fachs. Und auch heute noch dienen Ukrainerinnen ihrem Land.

«Ich lerne, eine Kalaschnikow zu benutzen»

Rund 15 Prozent der ukrainischen Armee besteht aus weiblichen Kombattanten, weiss das US-Magazin «Time»: Demnach kämpfen derzeit also rund 30'000 Frauen gegen Putins Truppen. Anderswo wird die Zahl auf 23 Prozent und 57'000 Soldatinnen geschätzt. Vielleicht sind es auch im Laufe des Kriegs einfach mehr geworden.

Die Kämpferinnen verstecken sich nicht, wie ein Video zeigt, dass am Internationalen Frauentag veröffentlicht wurde. «Der genetische Fundus unserer Nation wird zuverlässig geschützt», erklärt die Wortführerin, weil die Frauen ihre Kinder in Sicherheit gebracht haben. «Wir schliessen uns den Männern und der ukrainischen Armee an», heisst es am 8. März weiter.

Den Russen ruft sie zu: «Wir werden euch abknallen wie tollwütige Hunde.» Im Gegensatz dazu steht Kira Rudik mit ihrem Gesicht und Namen dazu, dass sie zur Waffe greift: Die 36-Jährige ist die Vorsitzende der politischen Partei Stimme und Abgeordnete im Parlament. «Ich lerne, eine Kalaschnikow zu benutzen», schreibt sie auf Twitter.

«Selbstbewusst und mächtig»

Das Sturmgewehr ist bei Weitem nicht ihre einzige Waffe: Wenn Rudik nicht zum Sturmgewehr greift, macht sie auf Instagram oder in diversen TV-Interviews Werbung für die ukrainische Sache. Ganz ähnlich macht es Anastasiia Lenna: Die frühere Miss Ukraine zeigt sich auf Instagram ebenfalls in Kampfmontur.

Das führt so weit, dass die 31-Jährige klarstellen muss, dass sie nicht dem Militär beigetreten ist. Sie wolle mit ihren Bildern inspirieren, schreibt die Kiewerin: «Ich mache keine Propaganda – ausser, dass ich zeige, dass unsere Frauen in der Ukraine stark, selbstbewusst und mächtig sind.» Die Ärztin Taiana wollte dagegen bereits 2014 der Armee beitreten, als Russland die Krim annektiert hat.

Sinnbild starker Frauen: Der obige Instagram-Post stammt von Irina Galay – die 33-Jährige hat als erste Ukrainerin den Mount Everest und den K2 bestiegen. Jetzt hat sie sich der Armee angeschlossen.

«Damals hatte ich einen fünf Jahre alten Sohn und eine 20-jährige Tochter – deshalb konnte ich nicht gehen», sagt sie dem australischen Sender «ABC News». «Aber jetzt bin ich bereit, für sie zu kämpfen. Vor der Offensive habe ich gesagt: Ich liebe meine Kinder, meinen Mann und danach die Ukraine. Jetzt sage ich: Ich liebe die Ukraine, meine Kinder und meinen Mann.»

Putin «hat nicht mit uns gerechnet»

Andere Frauen helfen an anderen Fronten. So wie die dreifache Mutter Uljana, die in Lwiw Bedarf für Geflüchtete sammelt, und ihren Kindern ein Leben in Freiheit ermöglichen will. Olga, die eigentlich Designerin ist, näht nun mit ihren sieben Frauen unentgeltlich Textilien für das Militär. Ihr Mann kämpft in Kiew: «Wenn ich nur zu Hause rumsitze und nichts tue, werde ich verrückt», erklärt sie «ABC News».

Myroslawa Bodakowksa war beim Ausbruch des Krieges in Polen, um dort ihren Hautkrebs behandeln zu lassen. «Nun kämpfe ich zwei Kriege: gegen den Krebs und gegen Russland», sagt die 38-Jährige gegenüber «Time». Ihre Ärzte haben ihr geraten, kürzerzutreten, doch Bodakowksa fährt immer wieder abends nach Lwiw, um dort geflüchteten Frauen und Kindern zu helfen.

«Ich hole sie auf dem Perron ab und bringe sie zu einer Unterkunft. Ich fahre hin und her, bis die Sonne aufgeht. Dann gehe ich ins Bett», sagt sie. Auch Liliya Chyzh hilft an der Heimatfront. Mit Blick auf Wladimir Putin meint sie: «Er hat nicht mit uns gerechnet.»

«Wie stark ukrainische Frauen sind»

Die rothaarigen Lungenärztin, die um die 60 sein mag, hat gerade ihre 84 Jahre alte Mutter ausser Landes geschafft. Seit ihrer Rückkehr aus Polen behandelt Chyzh in Lwiw gratis Frauen und Kinder.

Die Gründerin von Dattalion hingegen will anonym bleiben: Das Portal sammelt in einer Datenbank Videos des Krieges, die verifiziert und katalogisiert werden. «Ich habe immer gewusst, wie stark ukrainische Frauen sind, aber jetzt wurde es tausendfach bestätigt», erzählt sie «Time».

Mit 120 Mitarbeitenden wurden bisher über 1200 Clips eingeordnet. «Wir sind vor allem Frauen, weil die Männer kämpfen oder gefährlichere Sachen machen.» Sie sichten Material, das auch von Alisa kommen könnte, einer jungen Cosplayerin, die Ende März aus Mariupol geflohen ist. Cosplayer ist ein Kofferwort aus costume und player.

Auch Ausländerinnen an der Front

In verschiedenen Instagram-Posts beschreibt die junge Frau die verzweifelte Lage in der umlagerten Stadt und die Odyssee über russische Checkpoints in Richtung Sicherheit, hier auf Englisch übersetzt.

«Ich weiss nicht, wo ich beginnen soll. Ich weiss nicht, ob es überhaupt Sinn macht. Ich weiss nicht, was als Nächstes kommt, wie man wieder zur Vernunft kommt, wie man wieder das Leben führen kann, das der Krieg ruiniert hat» schreibt Alisa.

In diesen Krieg ziehen aber nicht nur Kämpferinnen aus der Ukraine. Auch in der Internationalen Brigade dienen Frauen. So wie Giulia Schiff. Die italienische Luftwaffe hatte die 23 Jahre alte Pilotin entlassen, nachdem sie sich über Mobbing beschwert hat. Ihr Fall sollte vom obersten Gericht behandelt werden, das eine Verhandlung jedoch ablehnte.

Nun fliegt die junge Pilotin aus Venedig für die Ukraine, meldet die Nachrichtenagentur «Ansa». Eine andere Ausländerin erklärt sich in einem ukrainischen Propaganda-Video der Internationalen Brigade: «Ich bin Europäerin. Ihr seid Europäer. Wenn wir sie jetzt nicht stoppen, in welchem Land stoppen wir sie dann? Wer kommt als Nächstes?»

Die Frauen, die in der Ukraine kämpfen, haben mitunter erstaunliche Karrieren vorzuweisen. So wie Alina Mykhailova: Die heute 27-Jährige war bereits im Krieg 2014 im Einsatz, studierte anschliessend in Kiew, wurde dort ins Stadtparlament gewählt, engagierte sich im Verein für Veteraninnen – und hat sich nun erneut zum Dienst gemeldet.

«Ich bin die einzige Frau in unserer Einheit, und es ist schwer», gesteht sie dem amerikanischen National Public Radio. «Aber als Frau scheue ich mich davor, zu viele Gefühle zu zeigen. Ich will die Moral unserer Einheit nicht schmälern – den Kampfgeist der Jungs.» Ihre Mutter sorge sich, weil sie mit ihrem Vater in derselben Einheit dient, sagt Mykhailova noch.

Traurige Kapitel

Trotz diverser Beispiele weiblicher Tapferkeit hält sich die Berichterstattung beim Thema in der Regel an traditionelle Narrativen: «Die meisten Bilder von Frauen, die wir sehen, sind die von Opfern, die überproportional betroffen sind», erklärt Katja Gorchinskajadie, eine frühere Herausgeberin, dem «Foreign Policy»-Magazin. Das stimme natürlich einerseits – «aber es gibt auch Beispiele von Führungsqualität».

Weil Frauen gleich sind, droht auch ihnen natürlich das Schicksal des Todes. Irina Tsvila stirbt je nach Quelle am 24. oder 25. Februar im Alter von 52 Jahren. Auch Tsvila hat bereits 2014 gedient und greift auch jetzt in der Nähe von Kiew ein, doch ihre Einheit der Nationalgarde wird gleich zu Beginn des Krieges überrannt.

Die Lehrerin, Aktivistin, Fotografin und Autorin hinterlässt fünf Kinder. Sie sind nun Vollwaisen: Ihr Mann Dmytro stirbt beim gleichen Angriff neben ihr im Schützengraben. Und während der Tod von Frontfrauen traurig, aber unvermeidlich ist, ist das Ableben von Menschen wie Anastasiia Yalanskaya besonders tragisch.

Frauen auf beiden Seiten

Die 26-Jährige dokumentiert auf ihrer Facebook-Seite, wie sie hilft. Im Kinderspital. Im Militär-Krankenhaus. Am Tag vor ihrem Tod versucht sie, in den schwer zerstörten Vorort Irpin zu gelangen, doch die Brücke ist zerstört. Sie will es wieder versuchen, doch erst mit zwei weiteren Freiwilligen einer Aufnahmestelle Hundefutter bringen. Das Auto wird am 3. März von russischen Kugeln durchsiebt.

Es ist ein Thema mit vielen Facetten: Frauen machen in der Ukraine 54 Prozent der Bevölkerung aus. Neun von zehn Geflüchteten sind weiblich oder Kinder. 80'000 Frauen in der Ukraine werden in den nächsten drei Wochen Nachwuchs bekommen, und sie kämpfen auch an allen anderen Fronten.

Übrigens auch auf der Gegenseite: Irina Starikova heisst im Felde Bagira. Die 41-jährige Scharfschützin, die 40 Ukrainer getötet haben will, ist von Kiews Streitkräften gerade gefangen genommen worden. Es ist wohl kein Zufall, dass es zwei frühere sozialistischen Staaten sind, die dafür gesorgt haben, dass auf beiden Seiten dieses Krieges Frauen kämpfen.