Kurze Ansprache zum «Tag des Sieges» Wladimir Putin redete wenig – was sagt er damit?

Von Andreas Fischer

9.5.2022

Putin behauptet, Westen bereite eine Invasion Russlands vor

Putin behauptet, Westen bereite eine Invasion Russlands vor

Der russische Präsident sprach am Montag auf dem Roten Platz in Moskau, wo er den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg beiwohnte und eine Militärparade abnahm.

09.05.2022

Der grosse Knall am Tag des Sieges blieb aus: Wladimir Putin schiebt dem Westen die Schuld am Krieg in der Ukraine zu, bleibt ansonsten aber schwammig. Ein Experte erklärt, was seine kurze Rede bedeutet.

Von Andreas Fischer

9.5.2022

Zehn Minuten. Mehr Zeit nahm sich Russlands Präsident Wladimir Putin am Vormittag nicht für seine Rede zum Tag des Sieges. Was hatte der Westen alles befürchtet: eine Generalmobilmachung, eine offizielle Kriegserklärung an die Ukraine, eine weitere Eskalation des Krieges könnte in die Wege geleitet und sogar taktische Atomwaffenschläge angekündigt werden.

Russland-Experte Ulrich Schmid hatte es im Interview mit blue News vor einigen Tagen für «wahrscheinlich» gehalten, dass «ein Referendum in Donezk und Luhansk angekündigt wird».

Nichts dergleichen geschah. Während einige Beobachter*innen, wie SRF-Korrespondentin Luzia Tschrirky, eine «inhaltslose» Rede hörten, fanden andere durchaus bemerkenswerte Aspekte in Putins kurzer Ansprache. Immerhin erwähnte Putin erstmals Opfer und gedachte der Familien der Gefallenen und Verwundeten – ganz so, als hätte er eingesehen, dass er den Krieg vor der eigenen Bevölkerung nicht mehr verschweigen kann.

Warum verzichtet Putin auf konkrete Ankündigungen?

Was hat es zu bedeuten, dass Putin in seiner Rede zum Tag des Sieges eher schwammig blieb? Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, sieht auf Nachfrage von blue News den «Ausdruck eines neuen politischen Pragmatismus, der aus den Rückschlägen der Aggression gegen die Ukraine gelernt hat», in der «ernüchterten Rede». Putin werde «wohl erst einen Sieg verkünden, wenn er wirklich die Gebiete Luhansk und Donezk kontrolliert.»

Was bedeuten die geänderten Kriegsziele?

In seiner Rede rückte Putin von seinem Maximalziel ab, die ganze Ukraine zu erobern, und konzentrierte sich stark auf den Donbas. Die Vermutung, er könnte damit offiziell die Kriegsziele geändert haben, bestätigt Schmid: «Ja, es geht um die Eroberung der Gebiete Luhansk und Donezk.» Anzeichen für einen teilweisen Rückzug Russlands oder gar ein indirektes Eingeständnis von Schwäche, sieht Schmid nicht. «Es wird zu keinem Rückzug kommen ohne ein vorzeigbares Resultat. Im Vordergrund steht nun die Eroberung der Gebiete.»

Wladimir Putin hat in seiner Rede am Tag des Sieges auf laute Töne verzichtet.
Wladimir Putin hat in seiner Rede am Tag des Sieges auf laute Töne verzichtet.
Keystone/EPA/MAXIM SHIPENKOV

Ist der Rest der Ukraine jetzt sicher?

Die geänderten Kriegsziele bedeuten nicht, dass Kiew und der Westen der Ukraine nun wieder «sicher» seien: «Es ist ja jetzt gerade wieder zu einem Raketenangriff auf Kiew gekommen», erinnert Schmid. «Das Signal lautet: In der ganzen Ukraine ist weiterhin mit russischen Angriffen zu rechnen.»

Was bedeutet Putins neue Kriegsbegründung?

Wladimir Putin hat in seiner Rede das Narrativ des Krieges geändert. Er sprach nicht mehr von einem Genozid an ethnischen Russen in der Ukraine, der verhindert werden müsse und auch nicht mehr von einer Entnazifizierung. Stattdessen bezeichnet Putin die Ukraine als Satellit der Nato und der USA.

Schmid glaubt, dass Putin aufpassen muss, «dass nicht er selbst und die Kreml-Führung als Nazis erscheinen. Präsident Selenskyj hat gestern in einer Video-Ansprache eine klare Parallele zwischen der russischen Aggression gegen die Ukraine und der Nazi-Besatzung der Ukraine gezogen.»

Dass Putin nun die USA und die Nato und nicht mehr die ukrainische Führung als Feind bezeichnet, liege darin begründet, dass «in der russischen Bevölkerung einfacher zu vermitteln ist, dass der Westen bekämpft wird.»

Ist Putin jetzt bereit zu verhandeln?

Dass Putin die russischen Ziele auf die Eroberung des Donbas reduziert und das Feindbild ändert, könnte ein Schachzug sein, um sich selbst den Weg zu Verhandlungen zu rechtfertigen, analysierte der Bonner Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder am Morgen beim deutschen Nachrichtensender Phoenix. Putin würde den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj damit quasi unter Druck setzen, Kompromisse beim Donbas zu machen, damit der Krieg beendet werden kann.

Schmid ist anderer Meinung: «Im Moment sind keine Verhandlungen in Sicht», glaubt der Osteuropa-Experte. Zudem sei die Kampfmoral der Ukraine im Moment ungebrochen.

Putins Aussage, dass Moskau immer wieder versucht habe, ein Abkommen für eine internationale Sicherheitslösung zu erzielen, während die Nato damit begonnen habe, das ukrainische Territorium militärisch zu erschliessen, könnte als Winkelzug verstanden werden, um die Ukraine als souveränen Verhandlungspartner zu diskreditieren. «Putin möchte natürlich – wie vor dem Krieg – direkt mit den USA verhandeln», erklärt Ulrich Schmid. Aber: «Der Westen sollte die Ukraine als souveränen Verhandlungspartner stützen.»